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Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.

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Zweites Buch. Erster Abschn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
weit von den Traditionen der alten Theorie entfernt, wie die
folgende Darstellung zeigen wird.

"Was man selber nicht hat, kann man auch nicht
auf einen Andern übertragen
" -- folglich, fügt das ältere
Recht hinzu, auch nicht vorher, bevor man es hat, allein das
neuere setzt sich über diese vermeintliche Consequenz hinweg. 197)

"Was man nicht hat, kann man nicht aufgeben"
-- folglich, sagt das ältere Recht, auch keine Erbschaft ausschla-
gen, bevor sie deferirt ist 198) -- ein Schluß, den unser heutiger
Erbverzicht widerlegt.

"Was Einem nicht angeboten, kann man auch
nicht annehmen
" -- folglich, sagt das ältere Recht, keine
Erbschaft, bevor sie deferirt ist, die Bonorum possessio läßt sich
nach neuerm Recht schon vorher (intra alienam vicem) agnos-
ciren.

Dispositionen, welche zu ihrer Wirksamkeit das Eigenthum
voraussetzen, z. B. die Freilassung des Sklaven, 199) das Vin-
dicationslegat, 200) erfordern dasselbe im Moment ihrer Vor-
nahme. Consequenterweise mußte die ältere Jurisprudenz dasselbe
auch für die Obligation annehmen, wo sie den Gegenstand
oder die Voraussetzung eines Rechtsgeschäfts bildet. Die neuere
dagegen läßt hier eine Anticipation zu, so z. B. die Novation,

197) L. 4 §. 6 de off. proc. (1. 16) .. est enim perquam absurdum,
antequam ipse jurisdictionem nanciscatur ... alii eam mandare, quam
non habet,
gleichwohl läßt der Jurist die eventuelle Uebertragung der Juris-
diction zu. Andere Beispiele: die Verpfändung zukünftiger Sachen, die Ces-
sion betagter (L. 43 Mand. 17. 1) und bedingter (L. 73 §. 1 ad leg. Falc.
35. 2) Forderungen.
198) L. 18 de acq. her. (29. 2). Is potest repudiare, qui et acqui-
rere potest.
In allgemeiner Fassung: L. 174 §. 1 de R. J. (50. 17): quod
quis si velit, habere non potest, id repudiare non potest.
199) L. 20 qui man. (40. 9); Convalescenz nach neuerm Recht in dem
Fall der L. 20 § 1 de cond. inst. (28. 7).
200) Bei fungiblen Sachen genügte das Eigenthum im Moment des
Todes, bei nicht fungiblen mußte es außerdem im Moment der Testaments-
errichtung vorhanden sein. Gaj. II. 196.

Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik.
weit von den Traditionen der alten Theorie entfernt, wie die
folgende Darſtellung zeigen wird.

Was man ſelber nicht hat, kann man auch nicht
auf einen Andern übertragen
“ — folglich, fügt das ältere
Recht hinzu, auch nicht vorher, bevor man es hat, allein das
neuere ſetzt ſich über dieſe vermeintliche Conſequenz hinweg. 197)

Was man nicht hat, kann man nicht aufgeben
— folglich, ſagt das ältere Recht, auch keine Erbſchaft ausſchla-
gen, bevor ſie deferirt iſt 198) — ein Schluß, den unſer heutiger
Erbverzicht widerlegt.

Was Einem nicht angeboten, kann man auch
nicht annehmen
“ — folglich, ſagt das ältere Recht, keine
Erbſchaft, bevor ſie deferirt iſt, die Bonorum possessio läßt ſich
nach neuerm Recht ſchon vorher (intra alienam vicem) agnos-
ciren.

Dispoſitionen, welche zu ihrer Wirkſamkeit das Eigenthum
vorausſetzen, z. B. die Freilaſſung des Sklaven, 199) das Vin-
dicationslegat, 200) erfordern daſſelbe im Moment ihrer Vor-
nahme. Conſequenterweiſe mußte die ältere Jurisprudenz daſſelbe
auch für die Obligation annehmen, wo ſie den Gegenſtand
oder die Vorausſetzung eines Rechtsgeſchäfts bildet. Die neuere
dagegen läßt hier eine Anticipation zu, ſo z. B. die Novation,

197) L. 4 §. 6 de off. proc. (1. 16) .. est enim perquam absurdum,
antequam ipse jurisdictionem nanciscatur … alii eam mandare, quam
non habet,
gleichwohl läßt der Juriſt die eventuelle Uebertragung der Juris-
diction zu. Andere Beiſpiele: die Verpfändung zukünftiger Sachen, die Ceſ-
ſion betagter (L. 43 Mand. 17. 1) und bedingter (L. 73 §. 1 ad leg. Falc.
35. 2) Forderungen.
198) L. 18 de acq. her. (29. 2). Is potest repudiare, qui et acqui-
rere potest.
In allgemeiner Faſſung: L. 174 §. 1 de R. J. (50. 17): quod
quis si velit, habere non potest, id repudiare non potest.
199) L. 20 qui man. (40. 9); Convalescenz nach neuerm Recht in dem
Fall der L. 20 § 1 de cond. inst. (28. 7).
200) Bei fungiblen Sachen genügte das Eigenthum im Moment des
Todes, bei nicht fungiblen mußte es außerdem im Moment der Teſtaments-
errichtung vorhanden ſein. Gaj. II. 196.
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[154/0170] Zweites Buch. Erſter Abſchn. III. Die Technik. A. Die Analytik. weit von den Traditionen der alten Theorie entfernt, wie die folgende Darſtellung zeigen wird. „Was man ſelber nicht hat, kann man auch nicht auf einen Andern übertragen“ — folglich, fügt das ältere Recht hinzu, auch nicht vorher, bevor man es hat, allein das neuere ſetzt ſich über dieſe vermeintliche Conſequenz hinweg. 197) „Was man nicht hat, kann man nicht aufgeben“ — folglich, ſagt das ältere Recht, auch keine Erbſchaft ausſchla- gen, bevor ſie deferirt iſt 198) — ein Schluß, den unſer heutiger Erbverzicht widerlegt. „Was Einem nicht angeboten, kann man auch nicht annehmen“ — folglich, ſagt das ältere Recht, keine Erbſchaft, bevor ſie deferirt iſt, die Bonorum possessio läßt ſich nach neuerm Recht ſchon vorher (intra alienam vicem) agnos- ciren. Dispoſitionen, welche zu ihrer Wirkſamkeit das Eigenthum vorausſetzen, z. B. die Freilaſſung des Sklaven, 199) das Vin- dicationslegat, 200) erfordern daſſelbe im Moment ihrer Vor- nahme. Conſequenterweiſe mußte die ältere Jurisprudenz daſſelbe auch für die Obligation annehmen, wo ſie den Gegenſtand oder die Vorausſetzung eines Rechtsgeſchäfts bildet. Die neuere dagegen läßt hier eine Anticipation zu, ſo z. B. die Novation, 197) L. 4 §. 6 de off. proc. (1. 16) .. est enim perquam absurdum, antequam ipse jurisdictionem nanciscatur … alii eam mandare, quam non habet, gleichwohl läßt der Juriſt die eventuelle Uebertragung der Juris- diction zu. Andere Beiſpiele: die Verpfändung zukünftiger Sachen, die Ceſ- ſion betagter (L. 43 Mand. 17. 1) und bedingter (L. 73 §. 1 ad leg. Falc. 35. 2) Forderungen. 198) L. 18 de acq. her. (29. 2). Is potest repudiare, qui et acqui- rere potest. In allgemeiner Faſſung: L. 174 §. 1 de R. J. (50. 17): quod quis si velit, habere non potest, id repudiare non potest. 199) L. 20 qui man. (40. 9); Convalescenz nach neuerm Recht in dem Fall der L. 20 § 1 de cond. inst. (28. 7). 200) Bei fungiblen Sachen genügte das Eigenthum im Moment des Todes, bei nicht fungiblen mußte es außerdem im Moment der Teſtaments- errichtung vorhanden ſein. Gaj. II. 196.

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Zitationshilfe: Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jhering_recht03_1865/170>, abgerufen am 21.11.2024.