Jhering, Rudolf von: Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Teil 3, Bd. 1. Leipzig, 1865.Zweites Buch. Zweiter Abschnitt. Die Rechte. Stellvertretung des heutigen Rechts, die Papiere auf den Inne-haber, die Pfandrechte an eigner Sache (Handfesten, Hypothe- kenbriefe) und eine Menge anderer moderner Begriffe -- sie alle also wären logische Mißbildungen? Anstatt freudig in ihnen eine Erweiterung unseres Vorstellungsvermögens zu begrüßen, sollen wir, weil unsere Logik über die Begriffe des römischen Rechts nicht hinauskann, ihnen das Stigma des Unjuristischen aufprägen, eingestehen, daß wir alles, was nicht römisch ist oder sich nicht über den römischen Leisten schlagen läßt, nicht zu begreifen vermögen, gleich als enthielte das römische Recht den für alle Zeiten gültigen Kanon des juristisch Denk- baren? Damit würden wir uns selber unser Verdammungs- urtheil sprechen. Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen ("Bahn der Willkür"), weil sie zu seiner Vorstellung vom Besitz nicht paßt, setzt aber in Wirklichkeit für den Fall der Gewalt nichts anderes fest, als was das römische Recht mittelst der actio quod metus causa für den des Zwanges angeordnet hatte -- und daran hat weder Puchta selber, noch irgend ein Anderer Anstoß genommen! So abhängig ist unser Maßstab über das "Willkürliche" vom römischen Vorurtheil! 431) Ich muß es mir versagen, bei dieser Gelegenheit nachzuweisen, wie
sehr derselbe unsere ganze Anschauungsweise und unsere Methode der dogma- tischen Behandlung beherrscht. Wie selten operiren wir mit dem legislativen Zweck des Instituts, wie häufig mit einem abstracten Gesichtspunkt, der dem- selben geradezu widerstreitet. Man denke z. B. an die Klagverjährung, wo Manche mittelst des Gesichtspunktes der Nativität der Klage in einigen Fäl- len geradezu zu unverjährbaren Klagen gelangen oder die Vertheidiger der Fortdauer einer (bedingt erzwingbaren) obl. naturalis sich kaum die Frage aufwerfen, wie diese Ansicht zu dem ausgesprochenen Zweck der Klagverjäh- rung stimme. Ich selber weiß mich von diesem Vorwurf übrigens keines- wegs frei. Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte. Stellvertretung des heutigen Rechts, die Papiere auf den Inne-haber, die Pfandrechte an eigner Sache (Handfeſten, Hypothe- kenbriefe) und eine Menge anderer moderner Begriffe — ſie alle alſo wären logiſche Mißbildungen? Anſtatt freudig in ihnen eine Erweiterung unſeres Vorſtellungsvermögens zu begrüßen, ſollen wir, weil unſere Logik über die Begriffe des römiſchen Rechts nicht hinauskann, ihnen das Stigma des Unjuriſtiſchen aufprägen, eingeſtehen, daß wir alles, was nicht römiſch iſt oder ſich nicht über den römiſchen Leiſten ſchlagen läßt, nicht zu begreifen vermögen, gleich als enthielte das römiſche Recht den für alle Zeiten gültigen Kanon des juriſtiſch Denk- baren? Damit würden wir uns ſelber unſer Verdammungs- urtheil ſprechen. Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen („Bahn der Willkür“), weil ſie zu ſeiner Vorſtellung vom Beſitz nicht paßt, ſetzt aber in Wirklichkeit für den Fall der Gewalt nichts anderes feſt, als was das römiſche Recht mittelſt der actio quod metus causa für den des Zwanges angeordnet hatte — und daran hat weder Puchta ſelber, noch irgend ein Anderer Anſtoß genommen! So abhängig iſt unſer Maßſtab über das „Willkürliche“ vom römiſchen Vorurtheil! 431) Ich muß es mir verſagen, bei dieſer Gelegenheit nachzuweiſen, wie
ſehr derſelbe unſere ganze Anſchauungsweiſe und unſere Methode der dogma- tiſchen Behandlung beherrſcht. Wie ſelten operiren wir mit dem legislativen Zweck des Inſtituts, wie häufig mit einem abſtracten Geſichtspunkt, der dem- ſelben geradezu widerſtreitet. Man denke z. B. an die Klagverjährung, wo Manche mittelſt des Geſichtspunktes der Nativität der Klage in einigen Fäl- len geradezu zu unverjährbaren Klagen gelangen oder die Vertheidiger der Fortdauer einer (bedingt erzwingbaren) obl. naturalis ſich kaum die Frage aufwerfen, wie dieſe Anſicht zu dem ausgeſprochenen Zweck der Klagverjäh- rung ſtimme. Ich ſelber weiß mich von dieſem Vorwurf übrigens keines- wegs frei. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0318" n="302"/><fw place="top" type="header">Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte.</fw><lb/> Stellvertretung des heutigen Rechts, die Papiere auf den Inne-<lb/> haber, die Pfandrechte an eigner Sache (Handfeſten, Hypothe-<lb/> kenbriefe) und eine Menge anderer moderner Begriffe — ſie alle<lb/> alſo wären logiſche Mißbildungen? Anſtatt freudig in ihnen<lb/> eine Erweiterung unſeres Vorſtellungsvermögens zu begrüßen,<lb/> ſollen wir, weil unſere Logik über die Begriffe des römiſchen<lb/> Rechts nicht hinauskann, ihnen das Stigma des Unjuriſtiſchen<lb/> aufprägen, eingeſtehen, daß wir alles, was nicht römiſch iſt<lb/> oder ſich nicht über den römiſchen Leiſten ſchlagen läßt, nicht<lb/> zu begreifen vermögen, gleich als enthielte das römiſche<lb/> Recht den für alle Zeiten gültigen Kanon des juriſtiſch Denk-<lb/> baren? Damit würden wir uns ſelber unſer Verdammungs-<lb/> urtheil ſprechen.</p><lb/> <p>Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen<lb/> hält.<note place="foot" n="431)">Ich muß es mir verſagen, bei dieſer Gelegenheit nachzuweiſen, wie<lb/> ſehr derſelbe unſere ganze Anſchauungsweiſe und unſere Methode der dogma-<lb/> tiſchen Behandlung beherrſcht. Wie ſelten operiren wir mit dem legislativen<lb/> Zweck des Inſtituts, wie häufig mit einem abſtracten Geſichtspunkt, der dem-<lb/> ſelben geradezu widerſtreitet. Man denke z. B. an die Klagverjährung, wo<lb/> Manche mittelſt des Geſichtspunktes der Nativität der Klage in einigen Fäl-<lb/> len geradezu zu unverjährbaren Klagen gelangen oder die Vertheidiger der<lb/> Fortdauer einer (bedingt erzwingbaren) <hi rendition="#aq">obl. naturalis</hi> ſich kaum die Frage<lb/> aufwerfen, wie dieſe Anſicht zu dem ausgeſprochenen Zweck der Klagverjäh-<lb/> rung ſtimme. Ich ſelber weiß mich von dieſem Vorwurf übrigens keines-<lb/> wegs frei.</note> Jener ganze Cultus des Logiſchen, der die Jurispru-<lb/> denz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuſchrauben ge-<lb/> denkt, iſt eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des<lb/> Weſens des Rechts. Das Leben iſt nicht der Begriffe, ſondern<lb/><note xml:id="seg2pn_25_2" prev="#seg2pn_25_1" place="foot" n="430)">(„Bahn der Willkür“), weil ſie zu ſeiner Vorſtellung vom Beſitz nicht paßt,<lb/> ſetzt aber in Wirklichkeit für den Fall der <hi rendition="#g">Gewalt</hi> nichts anderes feſt, als<lb/> was das römiſche Recht mittelſt der <hi rendition="#aq">actio quod metus causa</hi> für den des<lb/><hi rendition="#g">Zwanges</hi> angeordnet hatte — und daran hat weder Puchta ſelber, noch<lb/> irgend ein Anderer Anſtoß genommen! So abhängig iſt unſer Maßſtab über<lb/> das „Willkürliche“ vom römiſchen Vorurtheil!</note><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [302/0318]
Zweites Buch. Zweiter Abſchnitt. Die Rechte.
Stellvertretung des heutigen Rechts, die Papiere auf den Inne-
haber, die Pfandrechte an eigner Sache (Handfeſten, Hypothe-
kenbriefe) und eine Menge anderer moderner Begriffe — ſie alle
alſo wären logiſche Mißbildungen? Anſtatt freudig in ihnen
eine Erweiterung unſeres Vorſtellungsvermögens zu begrüßen,
ſollen wir, weil unſere Logik über die Begriffe des römiſchen
Rechts nicht hinauskann, ihnen das Stigma des Unjuriſtiſchen
aufprägen, eingeſtehen, daß wir alles, was nicht römiſch iſt
oder ſich nicht über den römiſchen Leiſten ſchlagen läßt, nicht
zu begreifen vermögen, gleich als enthielte das römiſche
Recht den für alle Zeiten gültigen Kanon des juriſtiſch Denk-
baren? Damit würden wir uns ſelber unſer Verdammungs-
urtheil ſprechen.
Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen
hält. 431) Jener ganze Cultus des Logiſchen, der die Jurispru-
denz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuſchrauben ge-
denkt, iſt eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des
Weſens des Rechts. Das Leben iſt nicht der Begriffe, ſondern
430)
431) Ich muß es mir verſagen, bei dieſer Gelegenheit nachzuweiſen, wie
ſehr derſelbe unſere ganze Anſchauungsweiſe und unſere Methode der dogma-
tiſchen Behandlung beherrſcht. Wie ſelten operiren wir mit dem legislativen
Zweck des Inſtituts, wie häufig mit einem abſtracten Geſichtspunkt, der dem-
ſelben geradezu widerſtreitet. Man denke z. B. an die Klagverjährung, wo
Manche mittelſt des Geſichtspunktes der Nativität der Klage in einigen Fäl-
len geradezu zu unverjährbaren Klagen gelangen oder die Vertheidiger der
Fortdauer einer (bedingt erzwingbaren) obl. naturalis ſich kaum die Frage
aufwerfen, wie dieſe Anſicht zu dem ausgeſprochenen Zweck der Klagverjäh-
rung ſtimme. Ich ſelber weiß mich von dieſem Vorwurf übrigens keines-
wegs frei.
430) („Bahn der Willkür“), weil ſie zu ſeiner Vorſtellung vom Beſitz nicht paßt,
ſetzt aber in Wirklichkeit für den Fall der Gewalt nichts anderes feſt, als
was das römiſche Recht mittelſt der actio quod metus causa für den des
Zwanges angeordnet hatte — und daran hat weder Puchta ſelber, noch
irgend ein Anderer Anſtoß genommen! So abhängig iſt unſer Maßſtab über
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