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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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Stilling lauschte still, er durfte kaum Athem holen; die
schöne Stimme des alten Kraft, die rührende Melodie und
die Geschichte selber wirkten dergestalt auf ihn, daß ihm das
Herz pochte; er besuchte den alten Bauern oft, der ihm dann
das Lied so oft vorsang, bis ers auswendig konnte. Nun senkte
sich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und
der Schulmeister gingen den Hügel herab, die braunen und
scheckigten Kühe grasten in der Trift, ihre heisern Schellen
klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den
Höfen herum und theilten ihr Butterbrod und Käse zusammen;
die Hausmüttern machten den Stall zurecht, und die Hühner
flatschten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch
einmal drehte sich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf
seinem Pfahl vor dem Loch herum und krähte seinen Nachbarn
gute Nacht; durch den Wald herab sprachen die Kohlenbrenner,
die Quersäcke auf den Nacken, und freuten sich der nahen Ruhe.

Heinrichs Stilling's Schulmethode war seltsam und
so eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des
Morgens, sobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei-
sammen waren, so betete er mit ihnen und catechisirte sie in
den ersten Grundsätzen des Christenthums nach eigenem Gut-
dünken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stück lesen;
wenn das vorbei war, so ermunterte er die Kinder, den Catechis-
mus zu lernen, indem er ihnen versprach, schöne Historien zu
erzählen, wenn sie ihre Aufgabe recht gut auswendig können
würden; während der Zeit schrieb er ihnen vor, was sie nach-
schreiben sollten, ließ sie noch einmal Alle lesen und dann kam's
zum Erzählen, wobei vor und nach alles erschöpft wurde, was
er jemals in der Bibel, im Kaiser Octavianus, der schönen
Magelone und andern mehr gelesen hatte; auch die Zerstörung
der königlichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So
war es auf seiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag
zum andern. Es läßt sich nie aussprechen, mit welchem Eifer
die Kinder lernten, um nur früh ans Erzählen zu kommen;
waren sie aber muthwillig und nicht fleißig gewesen, so erzählte
der Schulmeister nicht, sondern las selbst.

Niemand verlor bei dieser seltsamen Manier zu unterwei-

Stilling lauſchte ſtill, er durfte kaum Athem holen; die
ſchoͤne Stimme des alten Kraft, die ruͤhrende Melodie und
die Geſchichte ſelber wirkten dergeſtalt auf ihn, daß ihm das
Herz pochte; er beſuchte den alten Bauern oft, der ihm dann
das Lied ſo oft vorſang, bis ers auswendig konnte. Nun ſenkte
ſich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und
der Schulmeiſter gingen den Huͤgel herab, die braunen und
ſcheckigten Kuͤhe grasten in der Trift, ihre heiſern Schellen
klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den
Hoͤfen herum und theilten ihr Butterbrod und Kaͤſe zuſammen;
die Hausmuͤttern machten den Stall zurecht, und die Huͤhner
flatſchten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch
einmal drehte ſich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf
ſeinem Pfahl vor dem Loch herum und kraͤhte ſeinen Nachbarn
gute Nacht; durch den Wald herab ſprachen die Kohlenbrenner,
die Querſaͤcke auf den Nacken, und freuten ſich der nahen Ruhe.

Heinrichs Stilling’s Schulmethode war ſeltſam und
ſo eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des
Morgens, ſobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei-
ſammen waren, ſo betete er mit ihnen und catechiſirte ſie in
den erſten Grundſaͤtzen des Chriſtenthums nach eigenem Gut-
duͤnken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stuͤck leſen;
wenn das vorbei war, ſo ermunterte er die Kinder, den Catechis-
mus zu lernen, indem er ihnen verſprach, ſchoͤne Hiſtorien zu
erzaͤhlen, wenn ſie ihre Aufgabe recht gut auswendig koͤnnen
wuͤrden; waͤhrend der Zeit ſchrieb er ihnen vor, was ſie nach-
ſchreiben ſollten, ließ ſie noch einmal Alle leſen und dann kam’s
zum Erzaͤhlen, wobei vor und nach alles erſchoͤpft wurde, was
er jemals in der Bibel, im Kaiſer Octavianus, der ſchoͤnen
Magelone und andern mehr geleſen hatte; auch die Zerſtoͤrung
der koͤniglichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So
war es auf ſeiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag
zum andern. Es laͤßt ſich nie ausſprechen, mit welchem Eifer
die Kinder lernten, um nur fruͤh ans Erzaͤhlen zu kommen;
waren ſie aber muthwillig und nicht fleißig geweſen, ſo erzaͤhlte
der Schulmeiſter nicht, ſondern las ſelbſt.

Niemand verlor bei dieſer ſeltſamen Manier zu unterwei-

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[116/0124] Stilling lauſchte ſtill, er durfte kaum Athem holen; die ſchoͤne Stimme des alten Kraft, die ruͤhrende Melodie und die Geſchichte ſelber wirkten dergeſtalt auf ihn, daß ihm das Herz pochte; er beſuchte den alten Bauern oft, der ihm dann das Lied ſo oft vorſang, bis ers auswendig konnte. Nun ſenkte ſich die Sonne hinter den fernen blauen Berg; Kraft und der Schulmeiſter gingen den Huͤgel herab, die braunen und ſcheckigten Kuͤhe grasten in der Trift, ihre heiſern Schellen klangen wiederhallend hin und her. Die Knaben liefen in den Hoͤfen herum und theilten ihr Butterbrod und Kaͤſe zuſammen; die Hausmuͤttern machten den Stall zurecht, und die Huͤhner flatſchten, eins nach dem andern, hinauf zu ihrem Loch; noch einmal drehte ſich der orangegelbe und rothbraune Hahn auf ſeinem Pfahl vor dem Loch herum und kraͤhte ſeinen Nachbarn gute Nacht; durch den Wald herab ſprachen die Kohlenbrenner, die Querſaͤcke auf den Nacken, und freuten ſich der nahen Ruhe. Heinrichs Stilling’s Schulmethode war ſeltſam und ſo eingerichtet, daß er wenig oder nichts dabei verlor. Des Morgens, ſobald die Kinder in die Schule kamen und alle bei- ſammen waren, ſo betete er mit ihnen und catechiſirte ſie in den erſten Grundſaͤtzen des Chriſtenthums nach eigenem Gut- duͤnken ohne Buch; dann ließ er einen jeden ein Stuͤck leſen; wenn das vorbei war, ſo ermunterte er die Kinder, den Catechis- mus zu lernen, indem er ihnen verſprach, ſchoͤne Hiſtorien zu erzaͤhlen, wenn ſie ihre Aufgabe recht gut auswendig koͤnnen wuͤrden; waͤhrend der Zeit ſchrieb er ihnen vor, was ſie nach- ſchreiben ſollten, ließ ſie noch einmal Alle leſen und dann kam’s zum Erzaͤhlen, wobei vor und nach alles erſchoͤpft wurde, was er jemals in der Bibel, im Kaiſer Octavianus, der ſchoͤnen Magelone und andern mehr geleſen hatte; auch die Zerſtoͤrung der koͤniglichen Stadt Troja wurde mit vorgenommen. So war es auf ſeiner Schule Sitte und Gebrauch von einem Tag zum andern. Es laͤßt ſich nie ausſprechen, mit welchem Eifer die Kinder lernten, um nur fruͤh ans Erzaͤhlen zu kommen; waren ſie aber muthwillig und nicht fleißig geweſen, ſo erzaͤhlte der Schulmeiſter nicht, ſondern las ſelbſt. Niemand verlor bei dieſer ſeltſamen Manier zu unterwei-

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/124>, abgerufen am 23.11.2024.