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Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

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hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende
Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete
er seine ganze religiöse Ueberzeugung. Derjenige, sagte er
einmal zu sich, als er auf der Academie in Gefahr war,
in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der
augenscheinlich das Gebet der Menschen erhört, und ihre
Schicksale wunderbarer Weise und sichtbar lenkt, muß
unstreitig wahrer Gott, und seine Lehre Gottes Wort
seyn. Nun habe ich von jeher Jesum Christum als meinen
Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich
in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigestanden
und geholfen: Folglich ist Jesus Christus unstreitig
wahrer Gott, seine Lehre ist Gottes Wort, und seine
Religion, so wie Er sie gestiftet hat, die wahre.

Soviel über den Geist Stilling's nach der positiven
Seite seiner religiösen Ueberzeugung. Aber diese seine
eigenthümliche Ansicht bildete er nur aus im Gegensatze
gegen den Unglauben seiner Zeit. Seine Richtung ist haupt-
sächlich eine polemische, und zwar vor Allem gegen die
damals herrschende Philosophie Kant's, insoweit diese Ein-
fluß auf die Gestaltung des christlichen Glaubens hatte.
Das Eigenthümliche dieser Polemik nun ist, daß Stilling
seinen Gegner aus dessen eigenem Grundsatze zu wider-
legen suchte, nach welchem unsere Begriffe bloße, uns ein-
geborene Formen sind, welchen das wahre Wesen der
Dinge um uns her nicht entspricht. Damit stimmt nun
auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weise,
als Kant, sucht er jenen Satz durch folgende Schlüsse be-
greiflich zu machen: Wenn unsere sinnlichen Werkzeuge
anders organisirt wären, so empfänden wir die ganze sinn-
liche Welt ganz anders, als wir sie jetzt empfinden. Licht,
Farben, Figuren u. s. w. empfänden wir ganz anders, wäre
unser Auge anders organisirt. Die Menschen empfinden
nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h.
in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge -- in ihr inneres
Wesen dringt kein erschaffener Geist. Weil wir uns keine
zwei Dinge zugleich vorstellen können, darum mußten wir
so organisirt seyn, daß uns die Dinge im Raume und in

hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende
Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete
er ſeine ganze religiöſe Ueberzeugung. Derjenige, ſagte er
einmal zu ſich, als er auf der Academie in Gefahr war,
in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der
augenſcheinlich das Gebet der Menſchen erhört, und ihre
Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbar lenkt, muß
unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort
ſeyn. Nun habe ich von jeher Jeſum Chriſtum als meinen
Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich
in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigeſtanden
und geholfen: Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig
wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine
Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre.

Soviel über den Geiſt Stilling’s nach der poſitiven
Seite ſeiner religiöſen Ueberzeugung. Aber dieſe ſeine
eigenthümliche Anſicht bildete er nur aus im Gegenſatze
gegen den Unglauben ſeiner Zeit. Seine Richtung iſt haupt-
ſächlich eine polemiſche, und zwar vor Allem gegen die
damals herrſchende Philoſophie Kant’s, inſoweit dieſe Ein-
fluß auf die Geſtaltung des chriſtlichen Glaubens hatte.
Das Eigenthümliche dieſer Polemik nun iſt, daß Stilling
ſeinen Gegner aus deſſen eigenem Grundſatze zu wider-
legen ſuchte, nach welchem unſere Begriffe bloße, uns ein-
geborene Formen ſind, welchen das wahre Weſen der
Dinge um uns her nicht entſpricht. Damit ſtimmt nun
auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weiſe,
als Kant, ſucht er jenen Satz durch folgende Schlüſſe be-
greiflich zu machen: Wenn unſere ſinnlichen Werkzeuge
anders organiſirt wären, ſo empfänden wir die ganze ſinn-
liche Welt ganz anders, als wir ſie jetzt empfinden. Licht,
Farben, Figuren u. ſ. w. empfänden wir ganz anders, wäre
unſer Auge anders organiſirt. Die Menſchen empfinden
nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h.
in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres
Weſen dringt kein erſchaffener Geiſt. Weil wir uns keine
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[12/0020] hierin fand er auch eine für ihn vollkommen hinreichende Schutzwehr gegen allen Religionszweifel, hierauf gründete er ſeine ganze religiöſe Ueberzeugung. Derjenige, ſagte er einmal zu ſich, als er auf der Academie in Gefahr war, in Zweifel über die Religion zu gerathen, derjenige, der augenſcheinlich das Gebet der Menſchen erhört, und ihre Schickſale wunderbarer Weiſe und ſichtbar lenkt, muß unſtreitig wahrer Gott, und ſeine Lehre Gottes Wort ſeyn. Nun habe ich von jeher Jeſum Chriſtum als meinen Gott und Heiland verehrt und ihn angebetet. Er hat mich in meinen Nöthen erhört, und mir wunderbar beigeſtanden und geholfen: Folglich iſt Jeſus Chriſtus unſtreitig wahrer Gott, ſeine Lehre iſt Gottes Wort, und ſeine Religion, ſo wie Er ſie geſtiftet hat, die wahre. Soviel über den Geiſt Stilling’s nach der poſitiven Seite ſeiner religiöſen Ueberzeugung. Aber dieſe ſeine eigenthümliche Anſicht bildete er nur aus im Gegenſatze gegen den Unglauben ſeiner Zeit. Seine Richtung iſt haupt- ſächlich eine polemiſche, und zwar vor Allem gegen die damals herrſchende Philoſophie Kant’s, inſoweit dieſe Ein- fluß auf die Geſtaltung des chriſtlichen Glaubens hatte. Das Eigenthümliche dieſer Polemik nun iſt, daß Stilling ſeinen Gegner aus deſſen eigenem Grundſatze zu wider- legen ſuchte, nach welchem unſere Begriffe bloße, uns ein- geborene Formen ſind, welchen das wahre Weſen der Dinge um uns her nicht entſpricht. Damit ſtimmt nun auch Stilling überein. Auf eine gemeinfaßlichere Weiſe, als Kant, ſucht er jenen Satz durch folgende Schlüſſe be- greiflich zu machen: Wenn unſere ſinnlichen Werkzeuge anders organiſirt wären, ſo empfänden wir die ganze ſinn- liche Welt ganz anders, als wir ſie jetzt empfinden. Licht, Farben, Figuren u. ſ. w. empfänden wir ganz anders, wäre unſer Auge anders organiſirt. Die Menſchen empfinden nur die Oberfläche der Dinge in Raum und Zeit, d. h. in der Ausdehnung und Aufeinanderfolge — in ihr inneres Weſen dringt kein erſchaffener Geiſt. Weil wir uns keine zwei Dinge zugleich vorſtellen können, darum mußten wir ſo organiſirt ſeyn, daß uns die Dinge im Raume und in

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Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/20>, abgerufen am 23.11.2024.