schluß, ohne in Widersprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre übersinnliche Wesen der Dinge bestimmen zu wollen. Was also bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Mensch über das Uebersinnliche Aufschluß erhalten solle, die Grundsätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Uebersinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müssen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretische, nicht auch eine practische Ver- nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretischen Ver- nunft alle Wahrheit abgesprochen, so gründete er auf die Selbstgesetzgebung der Vernunft den positiven Theil seiner Wissenschaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundsatz aller Menschen seyn könnte, es zu wollen ohne Rücksicht darauf, ob die Erfüllung unserer Pflicht uns angenehm oder unangenehm sey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein subjectives Gefühl sey, sich bestimmen zu lassen: dieß fand er als unbedingte Forderung der so- genannten practischen Vernunft. Diese Lehre setzte die unbedingte Freiheit des Menschen voraus, denn nur ein völlig freies Wesen kann jene Forderung "du sollst" an sich selbst unbedingt stellen: von dieser Lehre schloß aber auch Kant auf das Daseyn Gottes, als des heiligen Welt- regenten, und auf die Unsterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengesetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Mensch also in beständigem Fortschritte begriffen seyn müsse. So gründete er also eine von der positiven Religion ganz un- abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, waren, indem bei der Voraussetzung der vollen Freiheit des menschlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlösung hinwegfiel, und Christus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in seinem Tode ein hohes Beispiel von Auf- opferung für das Gute aufstellte. Dieß sind die Haupt- lehren, welche der Leser überall wird bekämpft sehen. Hier
ſchluß, ohne in Widerſprüche zu kommen, es nicht wagen dürfen, das wahre überſinnliche Weſen der Dinge beſtimmen zu wollen. Was alſo bleibe anderes übrig, als daß wir durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden, wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn der Menſch über das Ueberſinnliche Aufſchluß erhalten ſolle, die Grundſätze zum Denken und Schließen aus der Natur des Ueberſinnlichen genommen, d. h. daß alsdann die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müſſen, aber nur dann, wenn es bloß eine theoretiſche, nicht auch eine practiſche Ver- nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretiſchen Ver- nunft alle Wahrheit abgeſprochen, ſo gründete er auf die Selbſtgeſetzgebung der Vernunft den poſitiven Theil ſeiner Wiſſenſchaft. Das Gute um des Guten willen zu üben, bloß zu wollen, was allgemeiner Grundſatz aller Menſchen ſeyn könnte, es zu wollen ohne Rückſicht darauf, ob die Erfüllung unſerer Pflicht uns angenehm oder unangenehm ſey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche immer doch nur ein ſubjectives Gefühl ſey, ſich beſtimmen zu laſſen: dieß fand er als unbedingte Forderung der ſo- genannten practiſchen Vernunft. Dieſe Lehre ſetzte die unbedingte Freiheit des Menſchen voraus, denn nur ein völlig freies Weſen kann jene Forderung „du ſollſt“ an ſich ſelbſt unbedingt ſtellen: von dieſer Lehre ſchloß aber auch Kant auf das Daſeyn Gottes, als des heiligen Welt- regenten, und auf die Unſterblichkeit, weil jene Forderung des Sittengeſetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Menſch alſo in beſtändigem Fortſchritte begriffen ſeyn müſſe. So gründete er alſo eine von der poſitiven Religion ganz un- abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unſterblichkeit, waren, indem bei der Vorausſetzung der vollen Freiheit des menſchlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlöſung hinwegfiel, und Chriſtus zu einem bloßen Sittenlehrer wurde, der in ſeinem Tode ein hohes Beiſpiel von Auf- opferung für das Gute aufſtellte. Dieß ſind die Haupt- lehren, welche der Leſer überall wird bekämpft ſehen. Hier
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ſchluß, ohne in Widerſprüche zu kommen, es nicht wagen
dürfen, das wahre überſinnliche Weſen der Dinge beſtimmen
zu wollen. Was alſo bleibe anderes übrig, als daß wir
durch göttliche Offenbarung über das Ewige belehrt werden,
wie es denn auch in der Natur der Sache liege, daß, wenn
der Menſch über das Ueberſinnliche Aufſchluß erhalten
ſolle, die Grundſätze zum Denken und Schließen aus der
Natur des Ueberſinnlichen genommen, d. h. daß alsdann
die Vernunft von Oben erleuchtet werde.
Kant hätte dieß zugeben müſſen, aber nur dann, wenn
es bloß eine theoretiſche, nicht auch eine practiſche Ver-
nunft gäbe. Allein nachdem Kant der theoretiſchen Ver-
nunft alle Wahrheit abgeſprochen, ſo gründete er auf die
Selbſtgeſetzgebung der Vernunft den poſitiven Theil ſeiner
Wiſſenſchaft. Das Gute um des Guten willen zu üben,
bloß zu wollen, was allgemeiner Grundſatz aller Menſchen
ſeyn könnte, es zu wollen ohne Rückſicht darauf, ob die
Erfüllung unſerer Pflicht uns angenehm oder unangenehm
ſey, ja ohne von den Triebfedern der Liebe Gottes, welche
immer doch nur ein ſubjectives Gefühl ſey, ſich beſtimmen
zu laſſen: dieß fand er als unbedingte Forderung der ſo-
genannten practiſchen Vernunft. Dieſe Lehre ſetzte die
unbedingte Freiheit des Menſchen voraus, denn nur ein
völlig freies Weſen kann jene Forderung „du ſollſt“ an
ſich ſelbſt unbedingt ſtellen: von dieſer Lehre ſchloß aber
auch Kant auf das Daſeyn Gottes, als des heiligen Welt-
regenten, und auf die Unſterblichkeit, weil jene Forderung
des Sittengeſetzes nie ganz erfüllt werden könne, der Menſch
alſo in beſtändigem Fortſchritte begriffen ſeyn müſſe. So
gründete er alſo eine von der poſitiven Religion ganz un-
abhängige Vernunftreligion, deren ganzer magerer Inhalt
jene drei Begriffe: Gott, Freiheit und Unſterblichkeit,
waren, indem bei der Vorausſetzung der vollen Freiheit
des menſchlichen Willens die Nothwendigkeit der Erlöſung
hinwegfiel, und Chriſtus zu einem bloßen Sittenlehrer
wurde, der in ſeinem Tode ein hohes Beiſpiel von Auf-
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1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/22>, abgerufen am 09.11.2024.
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