nur kurz die Grundzüge der Stilling'schen Polemik gegen jene Lehren. Wie -- fragt er öfter -- kann auf das Moral- princip die Religion gegründet werden? Ist nicht das sitt- liche Gefühl verschieden bei den verschiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen seinen Feind für eine sittliche Pflicht hält? Aber -- sagt man -- nicht das unter den Menschen gel- tende, entstellte, sondern das reine Sittengesetz ist der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieses reine Sittengesetz ist eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Bösen, läßt sich denken, es könne allgemeiner Grundsatz aller Menschen werden; überhaupt aber der Mensch ist nicht bloß ein geistiges, er ist auch ein sinnliches Wesen. Lässest du also die künftige Belohnung oder Bestrafung nicht mehr als Triebfeder zum sittlichen Handeln gelten, wie wirst du alsdann auf die Menschen, besonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant'sche Philosophie mit dem Christenthum in den größten Widerspruch kam, das war die Lehre, daß der Mensch von Natur gut und vollkommen frei sey. Diesen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlösung führte, greift Stilling hauptsächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der mensch- lichen Natur in starken Zügen darstellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menschheit aus ihrem Verderben erlösen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig sey, wenn der Mensch gebessert und geheiligt werden solle. Nicht nur in wissenschaftlicher Form durch Schlüsse vertheidigt er diese Lehre, sondern auch dadurch, daß er die christliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menschen beseligenden Wahrheit an einzelnen Beispielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge- fühl seiner Verschuldung vor Gott zagenden Sterbenden [d]urch leere Hoffnungen, durch Vorstellungen, als wäre seine Sündhaftigkeit nicht so groß, als er meine, zu trösten sucht, während derselbe im Innersten durch einen andern Geistlichen beruhigt wird, welcher ihm einerseits die Tiefe
nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral- princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt- liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält? Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel- tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling, dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt: von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken, es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden; überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam, das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch- lichen Natur in ſtarken Zügen darſtellt, und hieraus den Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge- fühl ſeiner Verſchuldung vor Gott zagenden Sterbenden [d]urch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre ſeine Sündhaftigkeit nicht ſo groß, als er meine, zu tröſten ſucht, während derſelbe im Innerſten durch einen andern Geiſtlichen beruhigt wird, welcher ihm einerſeits die Tiefe
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[15/0023]
nur kurz die Grundzüge der Stilling’ſchen Polemik gegen
jene Lehren. Wie — fragt er öfter — kann auf das Moral-
princip die Religion gegründet werden? Iſt nicht das ſitt-
liche Gefühl verſchieden bei den verſchiedenen Völkern, bei
dem gebildeten Europäer und bei dem Wilden, der blutige
Rache gegen ſeinen Feind für eine ſittliche Pflicht hält?
Aber — ſagt man — nicht das unter den Menſchen gel-
tende, entſtellte, ſondern das reine Sittengeſetz iſt der Grund
der Religion. Allein, erwiedert hierauf öfters Stilling,
dieſes reine Sittengeſetz iſt eine leere Formel ohne Inhalt:
von allem Möglichen, Guten und Böſen, läßt ſich denken,
es könne allgemeiner Grundſatz aller Menſchen werden;
überhaupt aber der Menſch iſt nicht bloß ein geiſtiges, er
iſt auch ein ſinnliches Weſen. Läſſeſt du alſo die künftige
Belohnung oder Beſtrafung nicht mehr als Triebfeder
zum ſittlichen Handeln gelten, wie wirſt du alsdann auf
die Menſchen, beſonders auf den Ungebildeten, veredelnd
einwirken können? Wodurch aber die Kant’ſche Philoſophie
mit dem Chriſtenthum in den größten Widerſpruch kam,
das war die Lehre, daß der Menſch von Natur gut und
vollkommen frei ſey. Dieſen Satz nun, der zur Leugnung
der Nothwendigkeit der Erlöſung führte, greift Stilling
hauptſächlich an, indem er die Sündhaftigkeit der menſch-
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Schluß zieht, daß nur die Gnade Gottes die Menſchheit
aus ihrem Verderben erlöſen konnte, daß immer noch eine
Kraft von Oben nothwendig ſey, wenn der Menſch gebeſſert
und geheiligt werden ſolle. Nicht nur in wiſſenſchaftlicher
Form durch Schlüſſe vertheidigt er dieſe Lehre, ſondern
auch dadurch, daß er die chriſtliche Lehre von der Gnade
in ihrer die Menſchen beſeligenden Wahrheit an einzelnen
Beiſpielen zeigt, indem er namentlich einen neugläubigen
Prediger vorführt, welcher vergebens einen im tiefen Ge-
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durch leere Hoffnungen, durch Vorſtellungen, als wäre
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/23>, abgerufen am 09.11.2024.
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