der menschlichen Schuld, andererseits die überschwengliche Größe der göttlichen Gnade vorstellt.
Doch nicht bloß die ernste Weltweisheit, sondern auch der frivole Witz eines Voltaire und seiner Geistesver- wandten bekämpfte das Christenthum, und dieser Witz hat bei einem so leichtsinnigen Volke, wie das französische ist, die Grundpfeiler des Christenthums noch tiefer erschüttert, als die Philosophie, welche sich ja herabließ, dem Christen- thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieser modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenlosigkeit der damaligen Zeit, so be- greift man, wie einem christlich denkenden Manne bange seyn mußte um sein Zeitalter. Das Heimweh drückt schon dem Titel nach die Sehnsucht Stilling's aus, aus dieser unchristlichen Zeit, wo er beinahe allein stund mit seinem Glauben, hinweg zu seyn. Aber diese Sehnsucht ging auch über in einen ernsten Unwillen über das Treiben seiner Zeitgenossen. Der graue Mann tritt als der letzte ernstlich warnende Gesandte Gottes an die Christenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finsterniß wandelnden Menschheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus sich ergeben. Ja Stilling sah in dem allgemeinen Abfall von Christo ein Zeichen der Nähe des Antichrists, und somit auch der Nähe des Herrn, um in sichtbarer Gestalt zu richten und sein Reich zu vollenden. Von diesem Gedanken ist er so erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Christi zur Poesie, seinem Chrysäon, sich begeistert fühlte: der Glaube daran war so stark, daß er sogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tausendjährigen Reichs vorschreibt, die Frage näher untersucht, ob Christus sich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenso über Zeit und Ort der Ankunft Untersuchungen anstellt. So befremdend diese Hoffnung auch Manchem erscheinen muß, der die Sache geistiger aufzufassen gewohnt ist, so eigenthumlich ist sie doch dem Christen: in jeder Zeit einer Krisis des göttlichen Reiches, am Anfang desselben, oder bei großen Entwick- lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die
der menſchlichen Schuld, andererſeits die überſchwengliche Größe der göttlichen Gnade vorſtellt.
Doch nicht bloß die ernſte Weltweisheit, ſondern auch der frivole Witz eines Voltaire und ſeiner Geiſtesver- wandten bekämpfte das Chriſtenthum, und dieſer Witz hat bei einem ſo leichtſinnigen Volke, wie das franzöſiſche iſt, die Grundpfeiler des Chriſtenthums noch tiefer erſchüttert, als die Philoſophie, welche ſich ja herabließ, dem Chriſten- thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieſer modernen Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den Luxus und die Sittenloſigkeit der damaligen Zeit, ſo be- greift man, wie einem chriſtlich denkenden Manne bange ſeyn mußte um ſein Zeitalter. Das Heimweh drückt ſchon dem Titel nach die Sehnſucht Stilling’s aus, aus dieſer unchriſtlichen Zeit, wo er beinahe allein ſtund mit ſeinem Glauben, hinweg zu ſeyn. Aber dieſe Sehnſucht ging auch über in einen ernſten Unwillen über das Treiben ſeiner Zeitgenoſſen. Der graue Mann tritt als der letzte ernſtlich warnende Geſandte Gottes an die Chriſtenheit auf, mitten in einer dunkeln, in der Finſterniß wandelnden Menſchheit, und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und Luxus ſich ergeben. Ja Stilling ſah in dem allgemeinen Abfall von Chriſto ein Zeichen der Nähe des Antichriſts, und ſomit auch der Nähe des Herrn, um in ſichtbarer Geſtalt zu richten und ſein Reich zu vollenden. Von dieſem Gedanken iſt er ſo erfüllt, daß er im Hinblick auf das nahe Reich Chriſti zur Poeſie, ſeinem Chryſäon, ſich begeiſtert fühlte: der Glaube daran war ſo ſtark, daß er ſogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen Einbruchs des tauſendjährigen Reichs vorſchreibt, die Frage näher unterſucht, ob Chriſtus ſich Allen oder bloß den Wiedergeborenen zeigen werde, ebenſo über Zeit und Ort der Ankunft Unterſuchungen anſtellt. So befremdend dieſe Hoffnung auch Manchem erſcheinen muß, der die Sache geiſtiger aufzufaſſen gewohnt iſt, ſo eigenthumlich iſt ſie doch dem Chriſten: in jeder Zeit einer Kriſis des göttlichen Reiches, am Anfang deſſelben, oder bei großen Entwick- lungspunkten, z. B. zur Zeit der Reformation, war die
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der menſchlichen Schuld, andererſeits die überſchwengliche
Größe der göttlichen Gnade vorſtellt.
Doch nicht bloß die ernſte Weltweisheit, ſondern auch
der frivole Witz eines Voltaire und ſeiner Geiſtesver-
wandten bekämpfte das Chriſtenthum, und dieſer Witz hat
bei einem ſo leichtſinnigen Volke, wie das franzöſiſche iſt,
die Grundpfeiler des Chriſtenthums noch tiefer erſchüttert,
als die Philoſophie, welche ſich ja herabließ, dem Chriſten-
thum ihr Gewand zu leihen, und es in dieſer modernen
Form dem Volke vorzulegen. Nimmt man noch dazu den
Luxus und die Sittenloſigkeit der damaligen Zeit, ſo be-
greift man, wie einem chriſtlich denkenden Manne bange
ſeyn mußte um ſein Zeitalter. Das Heimweh drückt ſchon
dem Titel nach die Sehnſucht Stilling’s aus, aus dieſer
unchriſtlichen Zeit, wo er beinahe allein ſtund mit ſeinem
Glauben, hinweg zu ſeyn. Aber dieſe Sehnſucht ging auch
über in einen ernſten Unwillen über das Treiben ſeiner
Zeitgenoſſen. Der graue Mann tritt als der letzte ernſtlich
warnende Geſandte Gottes an die Chriſtenheit auf, mitten
in einer dunkeln, in der Finſterniß wandelnden Menſchheit,
und Grauen erregend für Alle, welche dem Unglauben und
Luxus ſich ergeben. Ja Stilling ſah in dem allgemeinen
Abfall von Chriſto ein Zeichen der Nähe des Antichriſts,
und ſomit auch der Nähe des Herrn, um in ſichtbarer
Geſtalt zu richten und ſein Reich zu vollenden. Von
dieſem Gedanken iſt er ſo erfüllt, daß er im Hinblick
auf das nahe Reich Chriſti zur Poeſie, ſeinem Chryſäon,
ſich begeiſtert fühlte: der Glaube daran war ſo ſtark, daß
er ſogar Verhaltungsregeln für die Zeit des wirklichen
Einbruchs des tauſendjährigen Reichs vorſchreibt, die Frage
näher unterſucht, ob Chriſtus ſich Allen oder bloß den
Wiedergeborenen zeigen werde, ebenſo über Zeit und Ort
der Ankunft Unterſuchungen anſtellt. So befremdend dieſe
Hoffnung auch Manchem erſcheinen muß, der die Sache
geiſtiger aufzufaſſen gewohnt iſt, ſo eigenthumlich iſt ſie
doch dem Chriſten: in jeder Zeit einer Kriſis des göttlichen
Reiches, am Anfang deſſelben, oder bei großen Entwick-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 16. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/24>, abgerufen am 02.02.2025.
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