Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

Hoffnung auf die Wiederkunft Christi unter Vielen rege;
und eine ähnliche Krisis steht -- was nur Blinde leugnen
können -- auch jetzt demselben bevor, und gewiß hat Stil-
ling die Grundidee, um deren Vollführung es sich handelt,
richtig angegeben, wenn er sagt: "einst mit der Ausgießung
des Geistes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der
Unterschied der verschiedenen christlichen Partheien aufhö-
ren, uns sich Alles in wahrer Einigkeit des Geistes versam-
meln werde;" diese Grundidee wird wohl jeden freier Den-
kenden ansprechen, sey es nun, daß er hievon nur einen gei-
stigen Umschwung der Menschen, oder mehr in der Weise
der Phantasie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver-
änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus-
gabe der Bengel'schen Erklärung der Apokalypse, daß jene
apokalyptischen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri-
stenheit wieder rege werden. An diese Schrift aber schließt sich
passend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil-
ling's Siegesgeschichte an, indem hier im Allgemei-
nen dieselben Vorstellungen, nur nicht mit einer solchen, man
möchte sagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und
dem Glauben an die Apokalypse mehr schädlichen als förder-
lichen Bestimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na-
mentlich aber, indem sie die complicirte, dem gemeinen Mann
durchaus unverständliche Rechnung Bengels vereinfacht,
ohne im Resultate von ihm wesentlich abzuweichen.

Wir haben bisher den einen Gegensatz betrachtet, gegen
welchen die Schriften Stilling's gerichtet sind. Aber seine
Polemik ist eine gedoppelte, und eben durch diese Doppel-
seitigkeit seiner Polemik gewinnt er den wahren Stand-
punkt, welcher sich in der Mitte befindet zwischen zwei
Extremen, dem Unglauben und -- dem Aberglauben.
Wie Stilling diesen in seinem Theobald schildert, haben
wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darstellung des
Geistes der Schwärmerei wird schon deren Widerlegung
in sich schließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei
ist im Allgemeinen das Bewußtseyn über die Religion, wie
es sich in der überreizten Phantasie des ungebildeten Volkes
darstellt, welches religiöse Begriffe von Gott, Unsterblich-

Stilling's Schriften. I. Bd 2

Hoffnung auf die Wiederkunft Chriſti unter Vielen rege;
und eine ähnliche Kriſis ſteht — was nur Blinde leugnen
können — auch jetzt demſelben bevor, und gewiß hat Stil-
ling die Grundidee, um deren Vollführung es ſich handelt,
richtig angegeben, wenn er ſagt: „einſt mit der Ausgießung
des Geiſtes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der
Unterſchied der verſchiedenen chriſtlichen Partheien aufhö-
ren, uns ſich Alles in wahrer Einigkeit des Geiſtes verſam-
meln werde;“ dieſe Grundidee wird wohl jeden freier Den-
kenden anſprechen, ſey es nun, daß er hievon nur einen gei-
ſtigen Umſchwung der Menſchen, oder mehr in der Weiſe
der Phantaſie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver-
änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus-
gabe der Bengel’ſchen Erklärung der Apokalypſe, daß jene
apokalyptiſchen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri-
ſtenheit wieder rege werden. An dieſe Schrift aber ſchließt ſich
paſſend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil-
ling’s Siegesgeſchichte an, indem hier im Allgemei-
nen dieſelben Vorſtellungen, nur nicht mit einer ſolchen, man
möchte ſagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und
dem Glauben an die Apokalypſe mehr ſchädlichen als förder-
lichen Beſtimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na-
mentlich aber, indem ſie die complicirte, dem gemeinen Mann
durchaus unverſtändliche Rechnung Bengels vereinfacht,
ohne im Reſultate von ihm weſentlich abzuweichen.

Wir haben bisher den einen Gegenſatz betrachtet, gegen
welchen die Schriften Stilling’s gerichtet ſind. Aber ſeine
Polemik iſt eine gedoppelte, und eben durch dieſe Doppel-
ſeitigkeit ſeiner Polemik gewinnt er den wahren Stand-
punkt, welcher ſich in der Mitte befindet zwiſchen zwei
Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben.
Wie Stilling dieſen in ſeinem Theobald ſchildert, haben
wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darſtellung des
Geiſtes der Schwärmerei wird ſchon deren Widerlegung
in ſich ſchließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei
iſt im Allgemeinen das Bewußtſeyn über die Religion, wie
es ſich in der überreizten Phantaſie des ungebildeten Volkes
darſtellt, welches religiöſe Begriffe von Gott, Unſterblich-

Stilling’s Schriften. I. Bd 2
<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0025" n="17"/>
Hoffnung auf die Wiederkunft Chri&#x017F;ti unter Vielen rege;<lb/>
und eine ähnliche Kri&#x017F;is &#x017F;teht &#x2014; was nur Blinde leugnen<lb/>
können &#x2014; auch jetzt dem&#x017F;elben bevor, und gewiß hat Stil-<lb/>
ling die Grundidee, um deren Vollführung es &#x017F;ich handelt,<lb/>
richtig angegeben, wenn er &#x017F;agt: &#x201E;ein&#x017F;t mit der Ausgießung<lb/>
des Gei&#x017F;tes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der<lb/>
Unter&#x017F;chied der ver&#x017F;chiedenen chri&#x017F;tlichen Partheien aufhö-<lb/>
ren, uns &#x017F;ich Alles in wahrer Einigkeit des Gei&#x017F;tes ver&#x017F;am-<lb/>
meln werde;&#x201C; die&#x017F;e Grundidee wird wohl jeden freier Den-<lb/>
kenden an&#x017F;prechen, &#x017F;ey es nun, daß er hievon nur einen gei-<lb/>
&#x017F;tigen Um&#x017F;chwung der Men&#x017F;chen, oder mehr in der Wei&#x017F;e<lb/>
der Phanta&#x017F;ie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver-<lb/>
änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus-<lb/>
gabe der Bengel&#x2019;&#x017F;chen Erklärung der Apokalyp&#x017F;e, daß jene<lb/>
apokalypti&#x017F;chen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri-<lb/>
&#x017F;tenheit wieder rege werden. An die&#x017F;e Schrift aber &#x017F;chließt &#x017F;ich<lb/>
pa&#x017F;&#x017F;end als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil-<lb/>
ling&#x2019;s <hi rendition="#g">Siegesge&#x017F;chichte</hi> an, indem hier im Allgemei-<lb/>
nen die&#x017F;elben Vor&#x017F;tellungen, nur nicht mit einer &#x017F;olchen, man<lb/>
möchte &#x017F;agen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und<lb/>
dem Glauben an die Apokalyp&#x017F;e mehr &#x017F;chädlichen als förder-<lb/>
lichen Be&#x017F;timmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na-<lb/>
mentlich aber, indem &#x017F;ie die complicirte, dem gemeinen Mann<lb/>
durchaus unver&#x017F;tändliche Rechnung Bengels vereinfacht,<lb/>
ohne im Re&#x017F;ultate von ihm we&#x017F;entlich abzuweichen.</p><lb/>
        <p>Wir haben bisher den einen Gegen&#x017F;atz betrachtet, gegen<lb/>
welchen die Schriften Stilling&#x2019;s gerichtet &#x017F;ind. Aber &#x017F;eine<lb/>
Polemik i&#x017F;t eine gedoppelte, und eben durch die&#x017F;e Doppel-<lb/>
&#x017F;eitigkeit &#x017F;einer Polemik gewinnt er den wahren Stand-<lb/>
punkt, welcher &#x017F;ich in der Mitte befindet zwi&#x017F;chen zwei<lb/>
Extremen, dem Unglauben und &#x2014; dem <hi rendition="#g">Aberglauben</hi>.<lb/>
Wie Stilling die&#x017F;en in &#x017F;einem Theobald &#x017F;childert, haben<lb/>
wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Dar&#x017F;tellung des<lb/>
Gei&#x017F;tes der Schwärmerei wird &#x017F;chon deren Widerlegung<lb/>
in &#x017F;ich &#x017F;chließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei<lb/>
i&#x017F;t im Allgemeinen das Bewußt&#x017F;eyn über die Religion, wie<lb/>
es &#x017F;ich in der überreizten Phanta&#x017F;ie des ungebildeten Volkes<lb/>
dar&#x017F;tellt, welches religiö&#x017F;e Begriffe von Gott, Un&#x017F;terblich-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">Stilling&#x2019;s Schriften. <hi rendition="#aq">I.</hi> Bd 2</fw><lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[17/0025] Hoffnung auf die Wiederkunft Chriſti unter Vielen rege; und eine ähnliche Kriſis ſteht — was nur Blinde leugnen können — auch jetzt demſelben bevor, und gewiß hat Stil- ling die Grundidee, um deren Vollführung es ſich handelt, richtig angegeben, wenn er ſagt: „einſt mit der Ausgießung des Geiſtes auf Alle werde erkannt werden, daß nun der Unterſchied der verſchiedenen chriſtlichen Partheien aufhö- ren, uns ſich Alles in wahrer Einigkeit des Geiſtes verſam- meln werde;“ dieſe Grundidee wird wohl jeden freier Den- kenden anſprechen, ſey es nun, daß er hievon nur einen gei- ſtigen Umſchwung der Menſchen, oder mehr in der Weiſe der Phantaſie eine zugleich äußerliche übernatürliche Ver- änderung der Dinge hofft. Jedenfalls zeigt die neue Heraus- gabe der Bengel’ſchen Erklärung der Apokalypſe, daß jene apokalyptiſchen Hoffnungen in einem großen Theile der Chri- ſtenheit wieder rege werden. An dieſe Schrift aber ſchließt ſich paſſend als berichtigender und erläuternder Leitfaden Stil- ling’s Siegesgeſchichte an, indem hier im Allgemei- nen dieſelben Vorſtellungen, nur nicht mit einer ſolchen, man möchte ſagen, der Weltregierung Gottes vorgreifenden und dem Glauben an die Apokalypſe mehr ſchädlichen als förder- lichen Beſtimmtheit die Angabe der Zukunft enthält, na- mentlich aber, indem ſie die complicirte, dem gemeinen Mann durchaus unverſtändliche Rechnung Bengels vereinfacht, ohne im Reſultate von ihm weſentlich abzuweichen. Wir haben bisher den einen Gegenſatz betrachtet, gegen welchen die Schriften Stilling’s gerichtet ſind. Aber ſeine Polemik iſt eine gedoppelte, und eben durch dieſe Doppel- ſeitigkeit ſeiner Polemik gewinnt er den wahren Stand- punkt, welcher ſich in der Mitte befindet zwiſchen zwei Extremen, dem Unglauben und — dem Aberglauben. Wie Stilling dieſen in ſeinem Theobald ſchildert, haben wir kurz zur Einleitung anzugeben. Die Darſtellung des Geiſtes der Schwärmerei wird ſchon deren Widerlegung in ſich ſchließen. Der Aberglaube und die Schwärmerei iſt im Allgemeinen das Bewußtſeyn über die Religion, wie es ſich in der überreizten Phantaſie des ungebildeten Volkes darſtellt, welches religiöſe Begriffe von Gott, Unſterblich- Stilling’s Schriften. I. Bd 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/25
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/25>, abgerufen am 01.05.2024.