Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

keit u. s. w. nie rein und allgemein, sondern immer in einer
sinnlichen Form anschauet. Zunächst sollte man zwar eine
entgegengesetzte Vorstellung vom Aberglauben und von
der Schwärmerei sich bilden. Die Richtung jener Frau
v. Guyon, welche im Theobald auftritt, ist gerade gegen
die sinnliche Seite des Menschen gekehrt. Und in der That
ist es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die sinnlichen
Triebe, sondern beinahe alles Menschliche, den freien
Willen, natürliche Gefühle und das Selbstdenken ganz
zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung
des Selbstes geht der Genuß des Ewigen auf, dessen Ge-
fühlen sich der Schwärmer ganz hingibt, so daß er leicht
wieder aus seiner übernatürlichen Höhe in die gemeinste
Sinnlichkeit herabfällt. Andererseits bedenke man den von
einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundsatz:
"Wenn man den Willen Gottes nicht wisse, und weder
Vernunft noch Offenbarung sichern Rath gäben, so solle
man gar nichts thun, sondern schweigen und ruhen, bis sich
der Willen Gottes von selbst entwickle." Ich frage: wozu
führt dieser Grundsatz? Gesetzt, Vernunft und Offen-
barung reichten (was indeß nie der Fall seyn kann) einmal
nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht
irgend ein Organ in uns seyn, wodurch sich alsdann Gott
uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus-
geschlossen ist, was bleibt für eine andere Quelle höherer
Erkenntniß übrig, als die Phantasie oder das Gefühl?
Wahrlich aber, daß diese Phantasie, daß dieses Gefühl
ebenso falsch, unsittlich und höchstverkehrt, als dem Willen
Gottes angemessen seyn könne, davon liefert eben die Er-
zählung "Theobald" traurige Beispiele: wenn z. B. der
arme Bauernpursche Theobald und ein Fräulein Amalie
die aller menschlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge-
bungen ihrer fleischlichen Liebe für Gottes Willen halten,
oder wenn in der sogenannten Berlenburger Gemeinde
Abscheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falschen
Beschuldigungen gegen die ersten Christen erinnerten, hätte
nicht der Erzähler gerade das Interesse, den Pietismus in
einem schöneren Lichte darzustellen; oder endlich, wenn

keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer
ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine
entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von
der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau
v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen
die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That
iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen
Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien
Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz
zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung
des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge-
fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht
wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte
Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von
einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz:
„Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder
Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle
man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich
der Willen Gottes von ſelbſt entwickle.“ Ich frage: wozu
führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen-
barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal
nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht
irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott
uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus-
geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer
Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl?
Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl
ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen
Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er-
zählung „Theobald“ traurige Beiſpiele: wenn z. B. der
arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie
die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge-
bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten,
oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde
Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen
Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte
nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in
einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0026" n="18"/>
keit u. &#x017F;. w. nie rein und allgemein, &#x017F;ondern immer in einer<lb/>
&#x017F;innlichen Form an&#x017F;chauet. Zunäch&#x017F;t &#x017F;ollte man zwar eine<lb/>
entgegenge&#x017F;etzte Vor&#x017F;tellung vom Aberglauben und von<lb/>
der Schwärmerei &#x017F;ich bilden. Die Richtung jener Frau<lb/>
v. Guyon, welche im Theobald auftritt, i&#x017F;t gerade gegen<lb/>
die &#x017F;innliche Seite des Men&#x017F;chen gekehrt. Und in der That<lb/>
i&#x017F;t es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die &#x017F;innlichen<lb/>
Triebe, &#x017F;ondern beinahe alles Men&#x017F;chliche, den freien<lb/>
Willen, natürliche Gefühle und das Selb&#x017F;tdenken ganz<lb/>
zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung<lb/>
des Selb&#x017F;tes geht der Genuß des Ewigen auf, de&#x017F;&#x017F;en Ge-<lb/>
fühlen &#x017F;ich der Schwärmer ganz hingibt, &#x017F;o daß er leicht<lb/>
wieder aus &#x017F;einer übernatürlichen Höhe in die gemein&#x017F;te<lb/>
Sinnlichkeit herabfällt. Anderer&#x017F;eits bedenke man den von<lb/>
einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grund&#x017F;atz:<lb/>
&#x201E;Wenn man den Willen Gottes nicht wi&#x017F;&#x017F;e, und weder<lb/>
Vernunft noch Offenbarung &#x017F;ichern Rath gäben, &#x017F;o &#x017F;olle<lb/>
man gar nichts thun, &#x017F;ondern &#x017F;chweigen und ruhen, bis &#x017F;ich<lb/>
der Willen Gottes von &#x017F;elb&#x017F;t entwickle.&#x201C; Ich frage: wozu<lb/>
führt die&#x017F;er Grund&#x017F;atz? Ge&#x017F;etzt, Vernunft und Offen-<lb/>
barung reichten (was indeß nie der Fall &#x017F;eyn kann) einmal<lb/>
nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht<lb/>
irgend ein Organ in uns &#x017F;eyn, wodurch &#x017F;ich alsdann Gott<lb/>
uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus-<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, was bleibt für eine andere Quelle höherer<lb/>
Erkenntniß übrig, als die Phanta&#x017F;ie oder das Gefühl?<lb/>
Wahrlich aber, daß die&#x017F;e Phanta&#x017F;ie, daß die&#x017F;es Gefühl<lb/>
eben&#x017F;o fal&#x017F;ch, un&#x017F;ittlich und höch&#x017F;tverkehrt, als dem Willen<lb/>
Gottes angeme&#x017F;&#x017F;en &#x017F;eyn könne, davon liefert eben die Er-<lb/>
zählung &#x201E;Theobald&#x201C; traurige Bei&#x017F;piele: wenn z. B. der<lb/>
arme Bauernpur&#x017F;che Theobald und ein Fräulein Amalie<lb/>
die aller men&#x017F;chlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge-<lb/>
bungen ihrer flei&#x017F;chlichen Liebe für Gottes Willen halten,<lb/>
oder wenn in der &#x017F;ogenannten Berlenburger Gemeinde<lb/>
Ab&#x017F;cheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die fal&#x017F;chen<lb/>
Be&#x017F;chuldigungen gegen die er&#x017F;ten Chri&#x017F;ten erinnerten, hätte<lb/>
nicht der Erzähler gerade das Intere&#x017F;&#x017F;e, den Pietismus in<lb/>
einem &#x017F;chöneren Lichte darzu&#x017F;tellen; oder endlich, wenn<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[18/0026] keit u. ſ. w. nie rein und allgemein, ſondern immer in einer ſinnlichen Form anſchauet. Zunächſt ſollte man zwar eine entgegengeſetzte Vorſtellung vom Aberglauben und von der Schwärmerei ſich bilden. Die Richtung jener Frau v. Guyon, welche im Theobald auftritt, iſt gerade gegen die ſinnliche Seite des Menſchen gekehrt. Und in der That iſt es ein Zug der Schwärmerei, nicht nur die ſinnlichen Triebe, ſondern beinahe alles Menſchliche, den freien Willen, natürliche Gefühle und das Selbſtdenken ganz zu unterdrücken. Aber eben in der völligen Unterdrückung des Selbſtes geht der Genuß des Ewigen auf, deſſen Ge- fühlen ſich der Schwärmer ganz hingibt, ſo daß er leicht wieder aus ſeiner übernatürlichen Höhe in die gemeinſte Sinnlichkeit herabfällt. Andererſeits bedenke man den von einem Schwärmer im Theobald behaupteten Grundſatz: „Wenn man den Willen Gottes nicht wiſſe, und weder Vernunft noch Offenbarung ſichern Rath gäben, ſo ſolle man gar nichts thun, ſondern ſchweigen und ruhen, bis ſich der Willen Gottes von ſelbſt entwickle.“ Ich frage: wozu führt dieſer Grundſatz? Geſetzt, Vernunft und Offen- barung reichten (was indeß nie der Fall ſeyn kann) einmal nicht zu, über Gottes Willen uns zu belehren; muß nicht irgend ein Organ in uns ſeyn, wodurch ſich alsdann Gott uns offenbarte? Da aber die Vernunft ausdrücklich aus- geſchloſſen iſt, was bleibt für eine andere Quelle höherer Erkenntniß übrig, als die Phantaſie oder das Gefühl? Wahrlich aber, daß dieſe Phantaſie, daß dieſes Gefühl ebenſo falſch, unſittlich und höchſtverkehrt, als dem Willen Gottes angemeſſen ſeyn könne, davon liefert eben die Er- zählung „Theobald“ traurige Beiſpiele: wenn z. B. der arme Bauernpurſche Theobald und ein Fräulein Amalie die aller menſchlichen Ordnung zuwiderlaufenden Einge- bungen ihrer fleiſchlichen Liebe für Gottes Willen halten, oder wenn in der ſogenannten Berlenburger Gemeinde Abſcheulichkeiten vorfallen, welche leicht an die falſchen Beſchuldigungen gegen die erſten Chriſten erinnerten, hätte nicht der Erzähler gerade das Intereſſe, den Pietismus in einem ſchöneren Lichte darzuſtellen; oder endlich, wenn

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/26
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 18. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/26>, abgerufen am 01.05.2024.