aber ihrem Haupte Christo nachzuahmen suchten. Dieses kam mit Stillings Religionssystem völlig überein, und daher ver- band er sich auch mit allen diesen Leuten zur Brüderschaft und aufrichtigen Liebe. Und wirklich, diese Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Isaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit brüderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutsam genug war. Diese Lebensart war ihm aus der Maßen nützlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.
Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingsten war, be- schloß Meister Isaac, im Märkischen, etwa sechs Stunden von Waldstätt, einige sehr fromme Freunde zu besuchen; diese wohnten in einem Städtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das schönste Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau- bernde Gegenden, bald quer über eine Wiese, bald durch einen grünen Busch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol- ler Blumen, bald über einen buschichten Hügel, bald auf eine Haide, wo die Aussicht paradiesisch war, dann in einen gro- ßen Wald, dann längs einem plätschernden kühlen Bach, und immer so wechselsweise fort. Unsere beiden Pilger waren ge- sund und wohl, ohne Sorge und Bekümmerniß, hatten Frie- den von innen und aussen, liebten sich wie Brüder, sahen und empfanden überall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie- fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder sangen eine oder an- dere erbauliche Strophe, bis daß sie gegen Abend, ohne Müdig- keit und Beschwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem sehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem sie also am wenigsten beschwerlich fielen. Dieser Freund schrieb sich Glöckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieser Mann und seine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; sie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah- men sie ihn sehr freundlich auf, als sie Isaac versicherte,
aber ihrem Haupte Chriſto nachzuahmen ſuchten. Dieſes kam mit Stillings Religionsſyſtem voͤllig uͤberein, und daher ver- band er ſich auch mit allen dieſen Leuten zur Bruͤderſchaft und aufrichtigen Liebe. Und wirklich, dieſe Verbindung hatte eine vortreffliche Wirkung auf ihn. Iſaac ermahnte ihn immerfort zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit bruͤderlich, wo er irgendwo in Worten nicht behutſam genug war. Dieſe Lebensart war ihm aus der Maßen nuͤtzlich, und bereitete ihn immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.
Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingſten war, be- ſchloß Meiſter Iſaac, im Maͤrkiſchen, etwa ſechs Stunden von Waldſtaͤtt, einige ſehr fromme Freunde zu beſuchen; dieſe wohnten in einem Staͤdtchen, das ich hier Rothenbeck heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das ſchoͤnſte Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau- bernde Gegenden, bald quer uͤber eine Wieſe, bald durch einen gruͤnen Buſch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol- ler Blumen, bald uͤber einen buſchichten Huͤgel, bald auf eine Haide, wo die Ausſicht paradieſiſch war, dann in einen gro- ßen Wald, dann laͤngs einem plaͤtſchernden kuͤhlen Bach, und immer ſo wechſelsweiſe fort. Unſere beiden Pilger waren ge- ſund und wohl, ohne Sorge und Bekuͤmmerniß, hatten Frie- den von innen und auſſen, liebten ſich wie Bruͤder, ſahen und empfanden uͤberall den guten und nahen Vater aller Dinge in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie- fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von allerhand Sachen ganz vertraulich, oder ſangen eine oder an- dere erbauliche Strophe, bis daß ſie gegen Abend, ohne Muͤdig- keit und Beſchwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten bei einem ſehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem ſie alſo am wenigſten beſchwerlich fielen. Dieſer Freund ſchrieb ſich Gloͤckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte mit allerhand Waaren. Dieſer Mann und ſeine Frau hatten keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher Liebe; ſie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah- men ſie ihn ſehr freundlich auf, als ſie Iſaac verſicherte,
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aber ihrem Haupte Chriſto nachzuahmen ſuchten. Dieſes kam
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aufrichtigen Liebe. Und wirklich, dieſe Verbindung hatte eine
vortreffliche Wirkung auf ihn. Iſaac ermahnte ihn immerfort
zum Wachen und Beten, und erinnerte ihn allezeit bruͤderlich,
wo er irgendwo in Worten nicht behutſam genug war. Dieſe
Lebensart war ihm aus der Maßen nuͤtzlich, und bereitete ihn
immer mehr und mehr zu dem, was Gott aus ihm machen wollte.
Mitten im Mai, ich glaube, daß es bei Pfingſten war, be-
ſchloß Meiſter Iſaac, im Maͤrkiſchen, etwa ſechs Stunden
von Waldſtaͤtt, einige ſehr fromme Freunde zu beſuchen;
dieſe wohnten in einem Staͤdtchen, das ich hier Rothenbeck
heißen will. Er nahm Stillingen mit; es war das ſchoͤnſte
Wetter von der Welt, und der Weg dahin ging durch bezau-
bernde Gegenden, bald quer uͤber eine Wieſe, bald durch einen
gruͤnen Buſch voller Nachtigallen, bald ein Feld hinauf vol-
ler Blumen, bald uͤber einen buſchichten Huͤgel, bald auf eine
Haide, wo die Ausſicht paradieſiſch war, dann in einen gro-
ßen Wald, dann laͤngs einem plaͤtſchernden kuͤhlen Bach, und
immer ſo wechſelsweiſe fort. Unſere beiden Pilger waren ge-
ſund und wohl, ohne Sorge und Bekuͤmmerniß, hatten Frie-
den von innen und auſſen, liebten ſich wie Bruͤder, ſahen
und empfanden uͤberall den guten und nahen Vater aller Dinge
in der Natur, und hatten eine Menge guter Freunde in der
Welt, und wenig oder gar keine Feinde. Sie gingen oder lie-
fen vielmehr Hand an Hand ihren Weg fort, redeten von
allerhand Sachen ganz vertraulich, oder ſangen eine oder an-
dere erbauliche Strophe, bis daß ſie gegen Abend, ohne Muͤdig-
keit und Beſchwerde, zu Rothenbeck ankamen. Sie kehrten
bei einem ſehr lieben und wohlhabenden Freunde ein, dem ſie
alſo am wenigſten beſchwerlich fielen. Dieſer Freund ſchrieb
ſich Gloͤckner; er war ein kleiner Kaufmann, und handelte
mit allerhand Waaren. Dieſer Mann und ſeine Frau hatten
keine Kinder. Beide empfingen die Fremden mit herzlicher
Liebe; ſie kannten zwar Stillingen noch nicht, doch nah-
men ſie ihn ſehr freundlich auf, als ſie Iſaac verſicherte,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/234>, abgerufen am 26.11.2024.
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