Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

selbst bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei seinem Pa-
tron, und also beinah dritthalb Jahr in der Fremde gewesen, so
trat er seine erste Reise zu Fuß nach seinem Vaterland an. Er
hatte zwölf Stunden von Herrn Spanier bis zu seinem Oheim
Johann Stilling, und dreizehn bis zu seinem Vater; diese
Reise wollte er in einem Tage abthun. Er machte sich deß-
wegen des Morgens früh mit Tagesanbruch auf den Weg,
und reiste vergnügt fort, aber er nahm eine nähere Straße
vor sich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags
um vier Uhr kam er auf einer Höhe an die Gränze des Sa-
len'schen Landes, er sah in all die bekannten Gebirge hinein,
sein Herz zerschmolz, er setzte sich hin, weinte Thränen der
Empfindsamkeit, und dankte Gott für seine schwere aber sehr
seltsame Führung; er bedachte, wie elend und arm er aus
seinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß
an Geld, schönen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die-
ses machte ihn so weich und so dankbar gegen Gott, daß er
sich des Weinens nicht enthalten konnte.

Er wanderte also weiter, und kam nach einer Stunde bei
seinem Oheim zu Lichthausen an. Die Freude war nicht
auszusprechen, die da entstand, als sie ihn sahen; er war nun
lang und schlank ausgewachsen, hatte ein schönes dunkelblaues
Kleid, und seine weiße Wäsche an, sein Haar war gepudert,
und rund um aufgerollt, dabei sah er nun munter und blühend
aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und
küßte ihn, und die Thränen liefen ihm die Wangen herunter,
indem kam auch seine Muhme, Mariechen Stilling.
Sie war seit der Zeit auch nach Lichthausen verheirathet,
sie fiel ihm um den Hals, und küßte ihn ohne Aufhören.

Diese Nacht blieb er bei seinem Oheim, des andern Mor-
gens ging er nach Leindorf zu seinem Vater. Wie der recht-
schaffene Mann aufsprang, als er ihn so unvermuthet kommen
sah! er sank wieder zurück; Stilling aber lief auf ihn zu,
umarmte und küßte ihn zärtlich, Wilhelm hielt seine Hände
vor die Augen und weinte, sein Sohn vergoß ebenfalls Thrä-
nen; indem kam auch die Mutter, sie schüttelte ihm die Hand,
und weinte laut vor Freuden, daß sie ihn gesund wieder sahe.


ſelbſt bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei ſeinem Pa-
tron, und alſo beinah dritthalb Jahr in der Fremde geweſen, ſo
trat er ſeine erſte Reiſe zu Fuß nach ſeinem Vaterland an. Er
hatte zwoͤlf Stunden von Herrn Spanier bis zu ſeinem Oheim
Johann Stilling, und dreizehn bis zu ſeinem Vater; dieſe
Reiſe wollte er in einem Tage abthun. Er machte ſich deß-
wegen des Morgens fruͤh mit Tagesanbruch auf den Weg,
und reiste vergnuͤgt fort, aber er nahm eine naͤhere Straße
vor ſich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags
um vier Uhr kam er auf einer Hoͤhe an die Graͤnze des Sa-
len’ſchen Landes, er ſah in all die bekannten Gebirge hinein,
ſein Herz zerſchmolz, er ſetzte ſich hin, weinte Thraͤnen der
Empfindſamkeit, und dankte Gott fuͤr ſeine ſchwere aber ſehr
ſeltſame Fuͤhrung; er bedachte, wie elend und arm er aus
ſeinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß
an Geld, ſchoͤnen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die-
ſes machte ihn ſo weich und ſo dankbar gegen Gott, daß er
ſich des Weinens nicht enthalten konnte.

Er wanderte alſo weiter, und kam nach einer Stunde bei
ſeinem Oheim zu Lichthauſen an. Die Freude war nicht
auszuſprechen, die da entſtand, als ſie ihn ſahen; er war nun
lang und ſchlank ausgewachſen, hatte ein ſchoͤnes dunkelblaues
Kleid, und ſeine weiße Waͤſche an, ſein Haar war gepudert,
und rund um aufgerollt, dabei ſah er nun munter und bluͤhend
aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und
kuͤßte ihn, und die Thraͤnen liefen ihm die Wangen herunter,
indem kam auch ſeine Muhme, Mariechen Stilling.
Sie war ſeit der Zeit auch nach Lichthauſen verheirathet,
ſie fiel ihm um den Hals, und kuͤßte ihn ohne Aufhoͤren.

Dieſe Nacht blieb er bei ſeinem Oheim, des andern Mor-
gens ging er nach Leindorf zu ſeinem Vater. Wie der recht-
ſchaffene Mann aufſprang, als er ihn ſo unvermuthet kommen
ſah! er ſank wieder zuruͤck; Stilling aber lief auf ihn zu,
umarmte und kuͤßte ihn zaͤrtlich, Wilhelm hielt ſeine Haͤnde
vor die Augen und weinte, ſein Sohn vergoß ebenfalls Thraͤ-
nen; indem kam auch die Mutter, ſie ſchuͤttelte ihm die Hand,
und weinte laut vor Freuden, daß ſie ihn geſund wieder ſahe.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0250" n="242"/>
&#x017F;elb&#x017F;t bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei &#x017F;einem Pa-<lb/>
tron, und al&#x017F;o beinah dritthalb Jahr in der Fremde gewe&#x017F;en, &#x017F;o<lb/>
trat er &#x017F;eine er&#x017F;te Rei&#x017F;e zu Fuß nach &#x017F;einem Vaterland an. Er<lb/>
hatte zwo&#x0364;lf Stunden von Herrn Spanier bis zu &#x017F;einem Oheim<lb/><hi rendition="#g">Johann Stilling</hi>, und dreizehn bis zu &#x017F;einem Vater; die&#x017F;e<lb/>
Rei&#x017F;e wollte er in einem Tage abthun. Er machte &#x017F;ich deß-<lb/>
wegen des Morgens fru&#x0364;h mit Tagesanbruch auf den Weg,<lb/>
und reiste vergnu&#x0364;gt fort, aber er nahm eine na&#x0364;here Straße<lb/>
vor &#x017F;ich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags<lb/>
um vier Uhr kam er auf einer Ho&#x0364;he an die Gra&#x0364;nze des Sa-<lb/>
len&#x2019;&#x017F;chen Landes, er &#x017F;ah in all die bekannten Gebirge hinein,<lb/>
&#x017F;ein Herz zer&#x017F;chmolz, er &#x017F;etzte &#x017F;ich hin, weinte Thra&#x0364;nen der<lb/>
Empfind&#x017F;amkeit, und dankte Gott fu&#x0364;r &#x017F;eine &#x017F;chwere aber &#x017F;ehr<lb/>
&#x017F;elt&#x017F;ame Fu&#x0364;hrung; er bedachte, wie elend und arm er aus<lb/>
&#x017F;einem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß<lb/>
an Geld, &#x017F;cho&#x0364;nen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die-<lb/>
&#x017F;es machte ihn &#x017F;o weich und &#x017F;o dankbar gegen Gott, daß er<lb/>
&#x017F;ich des Weinens nicht enthalten konnte.</p><lb/>
            <p>Er wanderte al&#x017F;o weiter, und kam nach einer Stunde bei<lb/>
&#x017F;einem Oheim zu <hi rendition="#g">Lichthau&#x017F;en</hi> an. Die Freude war nicht<lb/>
auszu&#x017F;prechen, die da ent&#x017F;tand, als &#x017F;ie ihn &#x017F;ahen; er war nun<lb/>
lang und &#x017F;chlank ausgewach&#x017F;en, hatte ein &#x017F;cho&#x0364;nes dunkelblaues<lb/>
Kleid, und &#x017F;eine weiße Wa&#x0364;&#x017F;che an, &#x017F;ein Haar war gepudert,<lb/>
und rund um aufgerollt, dabei &#x017F;ah er nun munter und blu&#x0364;hend<lb/>
aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und<lb/>
ku&#x0364;ßte ihn, und die Thra&#x0364;nen liefen ihm die Wangen herunter,<lb/>
indem kam auch &#x017F;eine Muhme, <hi rendition="#g">Mariechen Stilling</hi>.<lb/>
Sie war &#x017F;eit der Zeit auch nach <hi rendition="#g">Lichthau&#x017F;en</hi> verheirathet,<lb/>
&#x017F;ie fiel ihm um den Hals, und ku&#x0364;ßte ihn ohne Aufho&#x0364;ren.</p><lb/>
            <p>Die&#x017F;e Nacht blieb er bei &#x017F;einem Oheim, des andern Mor-<lb/>
gens ging er nach <hi rendition="#g">Leindorf</hi> zu &#x017F;einem Vater. Wie der recht-<lb/>
&#x017F;chaffene Mann auf&#x017F;prang, als er ihn &#x017F;o unvermuthet kommen<lb/>
&#x017F;ah! er &#x017F;ank wieder zuru&#x0364;ck; <hi rendition="#g">Stilling</hi> aber lief auf ihn zu,<lb/>
umarmte und ku&#x0364;ßte ihn za&#x0364;rtlich, <hi rendition="#g">Wilhelm</hi> hielt &#x017F;eine Ha&#x0364;nde<lb/>
vor die Augen und weinte, &#x017F;ein Sohn vergoß ebenfalls Thra&#x0364;-<lb/>
nen; indem kam auch die Mutter, &#x017F;ie &#x017F;chu&#x0364;ttelte ihm die Hand,<lb/>
und weinte laut vor Freuden, daß &#x017F;ie ihn ge&#x017F;und wieder &#x017F;ahe.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[242/0250] ſelbſt bekannt war. Nachdem er nun ein Jahr bei ſeinem Pa- tron, und alſo beinah dritthalb Jahr in der Fremde geweſen, ſo trat er ſeine erſte Reiſe zu Fuß nach ſeinem Vaterland an. Er hatte zwoͤlf Stunden von Herrn Spanier bis zu ſeinem Oheim Johann Stilling, und dreizehn bis zu ſeinem Vater; dieſe Reiſe wollte er in einem Tage abthun. Er machte ſich deß- wegen des Morgens fruͤh mit Tagesanbruch auf den Weg, und reiste vergnuͤgt fort, aber er nahm eine naͤhere Straße vor ſich, als er ehemals gekommen war. Des Nachmittags um vier Uhr kam er auf einer Hoͤhe an die Graͤnze des Sa- len’ſchen Landes, er ſah in all die bekannten Gebirge hinein, ſein Herz zerſchmolz, er ſetzte ſich hin, weinte Thraͤnen der Empfindſamkeit, und dankte Gott fuͤr ſeine ſchwere aber ſehr ſeltſame Fuͤhrung; er bedachte, wie elend und arm er aus ſeinem Vaterland ausgegangen, und daß er nun Ueberfluß an Geld, ſchoͤnen Kleidern und an aller Nothdurft habe; die- ſes machte ihn ſo weich und ſo dankbar gegen Gott, daß er ſich des Weinens nicht enthalten konnte. Er wanderte alſo weiter, und kam nach einer Stunde bei ſeinem Oheim zu Lichthauſen an. Die Freude war nicht auszuſprechen, die da entſtand, als ſie ihn ſahen; er war nun lang und ſchlank ausgewachſen, hatte ein ſchoͤnes dunkelblaues Kleid, und ſeine weiße Waͤſche an, ſein Haar war gepudert, und rund um aufgerollt, dabei ſah er nun munter und bluͤhend aus, weil es ihm wohl ging. Sein Oheim umarmte und kuͤßte ihn, und die Thraͤnen liefen ihm die Wangen herunter, indem kam auch ſeine Muhme, Mariechen Stilling. Sie war ſeit der Zeit auch nach Lichthauſen verheirathet, ſie fiel ihm um den Hals, und kuͤßte ihn ohne Aufhoͤren. Dieſe Nacht blieb er bei ſeinem Oheim, des andern Mor- gens ging er nach Leindorf zu ſeinem Vater. Wie der recht- ſchaffene Mann aufſprang, als er ihn ſo unvermuthet kommen ſah! er ſank wieder zuruͤck; Stilling aber lief auf ihn zu, umarmte und kuͤßte ihn zaͤrtlich, Wilhelm hielt ſeine Haͤnde vor die Augen und weinte, ſein Sohn vergoß ebenfalls Thraͤ- nen; indem kam auch die Mutter, ſie ſchuͤttelte ihm die Hand, und weinte laut vor Freuden, daß ſie ihn geſund wieder ſahe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/250
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/250>, abgerufen am 24.11.2024.