Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835.

Bild:
<< vorherige Seite

ist es in der That ein schöner Gang in der Geschichte Theo-
balds, daß er denselben, nachdem er alle mögliche Verirrun-
gen durchlaufen, seine Versöhnung im Staate finden läßt, in
dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit
der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen stiftend, auftritt.

Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den
Geist darzustellen gesucht, welcher in den Schriften Stillings
waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Ist
Stillings Wiedererscheinen wesentliches Bedürfniß der Zeit?
gehört er nicht mit seiner Polemik einer verschollenen Bil-
dungsstufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da-
malige Zeit, die damalige Denkweise, mit deren Bekämpfung
er sich immer beschäftigt? Diese Frage, sagen wir -- dür-
fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der posi-
tive
Theil der in seinen schriftstellerischen Werken geäus-
serten Weltansicht, so lange das Christenthum besteht; und
diese seine Weltansicht nun -- könnte sie in einer lebendi-
gern, anziehendern Form dargestellt seyn, als der phantasie-
volle Stilling es that? -- ich sage nicht nur nach ihrer positi-
ven, auch nach ihrer polemischen Seite hin wird Stil-
lings Tendenz noch für unsere Zeit von Bedeutung seyn. Die-
jenige Auffassung des Christenthums, welche durch die Kant'-
sche Philosophie sich gestaltete, ist nicht etwa eine erst damals
gewordene, sondern eine im Wesentlichen uralte, sie ist die
des gewöhnlichen Menschenverstandes, welcher Gott in ein
Jenseits setzt, die Menschheit ihrer Göttlichkeit entleert, also
auch die Gottmenschheit Christi und die sich in uns einsen-
kende Gnade leugnet, und dagegen statt der in Gott zur Fülle
gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im
Menschen setzt, welche nie das Gute an sich erreicht, weßwe-
gen zugleich eine Unsterblichkeit angenommen werden muß,
in welcher der Mensch immer dem Unendlichen sich nähern
soll, ohne je mit demselben eins zu werden. Die Systeme der
Arianer, Nestorianer und Socianer sind ganz verwandte
Richtungen, und man kann sagen -- die Glieder der höhe-
ren, sogenannten aufgeklärten Stände sind beinahe durch-
gängig dieser geistesarmen Weltansicht zugethan. Der
Feind also, den Stilling bekämpft, ist noch nicht gestorben,

iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo-
balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun-
gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in
dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit
der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.

Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den
Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings
waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt
Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit?
gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil-
dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da-
malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung
er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür-
fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi-
tive
Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ-
ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und
dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi-
gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie-
volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti-
ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil-
lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die-
jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’-
ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals
gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die
des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein
Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo
auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen-
kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle
gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im
Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe-
gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß,
in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern
ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der
Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte
Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe-
ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch-
gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der
Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0028" n="20"/>
i&#x017F;t es in der That ein &#x017F;chöner Gang in der Ge&#x017F;chichte Theo-<lb/>
balds, daß er den&#x017F;elben, nachdem er alle mögliche Verirrun-<lb/>
gen durchlaufen, &#x017F;eine Ver&#x017F;öhnung im Staate finden läßt, in<lb/>
dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit<lb/>
der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen &#x017F;tiftend, auftritt.</p><lb/>
        <p>Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den<lb/>
Gei&#x017F;t darzu&#x017F;tellen ge&#x017F;ucht, welcher in den Schriften Stillings<lb/>
waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: I&#x017F;t<lb/>
Stillings Wiederer&#x017F;cheinen we&#x017F;entliches Bedürfniß der Zeit?<lb/>
gehört er nicht mit &#x017F;einer Polemik einer ver&#x017F;chollenen Bil-<lb/>
dungs&#x017F;tufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da-<lb/>
malige Zeit, die damalige Denkwei&#x017F;e, mit deren Bekämpfung<lb/>
er &#x017F;ich immer be&#x017F;chäftigt? Die&#x017F;e Frage, &#x017F;agen wir &#x2014; dür-<lb/>
fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der <hi rendition="#g">po&#x017F;i-<lb/>
tive</hi> Theil der in &#x017F;einen &#x017F;chrift&#x017F;telleri&#x017F;chen Werken geäu&#x017F;-<lb/>
&#x017F;erten Weltan&#x017F;icht, &#x017F;o lange das Chri&#x017F;tenthum be&#x017F;teht; und<lb/>
die&#x017F;e &#x017F;eine Weltan&#x017F;icht nun &#x2014; könnte &#x017F;ie in einer lebendi-<lb/>
gern, anziehendern Form darge&#x017F;tellt &#x017F;eyn, als der phanta&#x017F;ie-<lb/>
volle Stilling es that? &#x2014; ich &#x017F;age nicht nur nach ihrer po&#x017F;iti-<lb/>
ven, auch nach ihrer <hi rendition="#g">polemi&#x017F;chen</hi> Seite hin wird Stil-<lb/>
lings Tendenz noch für un&#x017F;ere Zeit von Bedeutung &#x017F;eyn. Die-<lb/>
jenige Auffa&#x017F;&#x017F;ung des Chri&#x017F;tenthums, welche durch die Kant&#x2019;-<lb/>
&#x017F;che Philo&#x017F;ophie &#x017F;ich ge&#x017F;taltete, i&#x017F;t nicht etwa eine er&#x017F;t damals<lb/>
gewordene, &#x017F;ondern eine im We&#x017F;entlichen uralte, &#x017F;ie i&#x017F;t die<lb/>
des gewöhnlichen Men&#x017F;chenver&#x017F;tandes, welcher Gott in ein<lb/>
Jen&#x017F;eits &#x017F;etzt, die Men&#x017F;chheit ihrer Göttlichkeit entleert, al&#x017F;o<lb/>
auch die Gottmen&#x017F;chheit Chri&#x017F;ti und die &#x017F;ich in uns ein&#x017F;en-<lb/>
kende Gnade leugnet, und dagegen &#x017F;tatt der in Gott zur Fülle<lb/>
gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im<lb/>
Men&#x017F;chen &#x017F;etzt, welche nie das Gute an &#x017F;ich erreicht, weßwe-<lb/>
gen zugleich eine Un&#x017F;terblichkeit angenommen werden muß,<lb/>
in welcher der Men&#x017F;ch immer dem Unendlichen &#x017F;ich nähern<lb/>
&#x017F;oll, ohne je mit dem&#x017F;elben eins zu werden. Die Sy&#x017F;teme der<lb/>
Arianer, Ne&#x017F;torianer und Socianer &#x017F;ind ganz verwandte<lb/>
Richtungen, und man kann &#x017F;agen &#x2014; die Glieder der höhe-<lb/>
ren, &#x017F;ogenannten aufgeklärten Stände &#x017F;ind beinahe durch-<lb/>
gängig die&#x017F;er gei&#x017F;tesarmen Weltan&#x017F;icht zugethan. Der<lb/>
Feind al&#x017F;o, den Stilling bekämpft, i&#x017F;t noch nicht ge&#x017F;torben,<lb/></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[20/0028] iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo- balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun- gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt. Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil- dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da- malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür- fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi- tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ- ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi- gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie- volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti- ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil- lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die- jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’- ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen- kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe- gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe- ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch- gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/28
Zitationshilfe: Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/28>, abgerufen am 01.05.2024.