ist es in der That ein schöner Gang in der Geschichte Theo- balds, daß er denselben, nachdem er alle mögliche Verirrun- gen durchlaufen, seine Versöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen stiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geist darzustellen gesucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Ist Stillings Wiedererscheinen wesentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit seiner Polemik einer verschollenen Bil- dungsstufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da- malige Zeit, die damalige Denkweise, mit deren Bekämpfung er sich immer beschäftigt? Diese Frage, sagen wir -- dür- fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der posi- tive Theil der in seinen schriftstellerischen Werken geäus- serten Weltansicht, so lange das Christenthum besteht; und diese seine Weltansicht nun -- könnte sie in einer lebendi- gern, anziehendern Form dargestellt seyn, als der phantasie- volle Stilling es that? -- ich sage nicht nur nach ihrer positi- ven, auch nach ihrer polemischen Seite hin wird Stil- lings Tendenz noch für unsere Zeit von Bedeutung seyn. Die- jenige Auffassung des Christenthums, welche durch die Kant'- sche Philosophie sich gestaltete, ist nicht etwa eine erst damals gewordene, sondern eine im Wesentlichen uralte, sie ist die des gewöhnlichen Menschenverstandes, welcher Gott in ein Jenseits setzt, die Menschheit ihrer Göttlichkeit entleert, also auch die Gottmenschheit Christi und die sich in uns einsen- kende Gnade leugnet, und dagegen statt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menschen setzt, welche nie das Gute an sich erreicht, weßwe- gen zugleich eine Unsterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Mensch immer dem Unendlichen sich nähern soll, ohne je mit demselben eins zu werden. Die Systeme der Arianer, Nestorianer und Socianer sind ganz verwandte Richtungen, und man kann sagen -- die Glieder der höhe- ren, sogenannten aufgeklärten Stände sind beinahe durch- gängig dieser geistesarmen Weltansicht zugethan. Der Feind also, den Stilling bekämpft, ist noch nicht gestorben,
iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo- balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun- gen durchlaufen, ſeine Verſöhnung im Staate finden läßt, in dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit? gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil- dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da- malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür- fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi- tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ- ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi- gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie- volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti- ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil- lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die- jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’- ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen- kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe- gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß, in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe- ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch- gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,
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iſt es in der That ein ſchöner Gang in der Geſchichte Theo-
balds, daß er denſelben, nachdem er alle mögliche Verirrun-
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dem Theobald zulezt als hoher Staatsbeamter befreundet mit
der wirklichen Welt und in ihr hohen Segen ſtiftend, auftritt.
Wir haben bisher im Allgemeinen die Richtung und den
Geiſt darzuſtellen geſucht, welcher in den Schriften Stillings
waltet. Ich glaube, wir dürfen nun kaum mehr fragen: Iſt
Stillings Wiedererſcheinen weſentliches Bedürfniß der Zeit?
gehört er nicht mit ſeiner Polemik einer verſchollenen Bil-
dungsſtufe an, hat er nicht etwa Bedeutung blos für die da-
malige Zeit, die damalige Denkweiſe, mit deren Bekämpfung
er ſich immer beſchäftigt? Dieſe Frage, ſagen wir — dür-
fen wir kaum mehr aufwerfen. Nicht nur bleibt der poſi-
tive Theil der in ſeinen ſchriftſtelleriſchen Werken geäuſ-
ſerten Weltanſicht, ſo lange das Chriſtenthum beſteht; und
dieſe ſeine Weltanſicht nun — könnte ſie in einer lebendi-
gern, anziehendern Form dargeſtellt ſeyn, als der phantaſie-
volle Stilling es that? — ich ſage nicht nur nach ihrer poſiti-
ven, auch nach ihrer polemiſchen Seite hin wird Stil-
lings Tendenz noch für unſere Zeit von Bedeutung ſeyn. Die-
jenige Auffaſſung des Chriſtenthums, welche durch die Kant’-
ſche Philoſophie ſich geſtaltete, iſt nicht etwa eine erſt damals
gewordene, ſondern eine im Weſentlichen uralte, ſie iſt die
des gewöhnlichen Menſchenverſtandes, welcher Gott in ein
Jenſeits ſetzt, die Menſchheit ihrer Göttlichkeit entleert, alſo
auch die Gottmenſchheit Chriſti und die ſich in uns einſen-
kende Gnade leugnet, und dagegen ſtatt der in Gott zur Fülle
gelangenden Freiheit, ein Vermögen leerer Willkühr im
Menſchen ſetzt, welche nie das Gute an ſich erreicht, weßwe-
gen zugleich eine Unſterblichkeit angenommen werden muß,
in welcher der Menſch immer dem Unendlichen ſich nähern
ſoll, ohne je mit demſelben eins zu werden. Die Syſteme der
Arianer, Neſtorianer und Socianer ſind ganz verwandte
Richtungen, und man kann ſagen — die Glieder der höhe-
ren, ſogenannten aufgeklärten Stände ſind beinahe durch-
gängig dieſer geiſtesarmen Weltanſicht zugethan. Der
Feind alſo, den Stilling bekämpft, iſt noch nicht geſtorben,
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/28>, abgerufen am 31.01.2025.
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