in der Bibel überhaupt, Rücksicht zu nehmen. Sehr verstän- dige Männer hielten schon die französische Kokarde für das Zeichen des Thiers, und glaubten also, das Thier aus dem Abgrund sey schon aufgestiegen und der Mensch der Sünden wirklich da. Diese ziemlich allgemeine Sensation unter den wahren Christen kam Stilling bedenklich vor und er war Willens, im grauen Manne davor zu warnen.
Auf der andern Seite war es ihm doch auch äußerst wich- tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Prälat Bengel schon vor fünfzig Jahren in seiner Erklärung der Apocalypse bestimmt vorausgesagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und der römische Stuhl gestürzt werden sollte. Dieses hatte nun ein Ungenannter in Karlsruhe in einer nähern und bestimm- ten Erläuterung des Bengel'schen apocalyptischen Rech- nungssystems noch genauer ausfindig gemacht und sogar die Jahre aus dem neunziger Jahrzehent festgesetzt, in welchen Rom gestürzt werden sollte, und dieß achtzehn Jahre vorher, ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte Stilling auf- merksam auf Bengels Schriften, und besonders auf das so eben berührte Buch des Karlsruher ungenannten Verfassers.
Hier kamen nun noch zwei Umstände, die auf Stillings Gemüth wirkten, und es zu einer so wichtigen Arbeit vorbe- reiteten: Das Heimweh hatte auf verschiedene Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine tiefen und wohlthätigen Eindruck gemacht; er wurde in dieser Gemeine bekannter, man fing an, seine Lebensgeschichte allgemeiner zu lesen, und auch seine übrigen Schriften, besonders der graue Mann, wurde durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch- reisenden Brüdern besucht, auch er las viele ihrer Schriften, mit einem Wort: die Brüdergemeine wurde ihm immer ehr- würdiger, besonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften überhaupt, und vorzüglich in ihren Gemein- und Missions- Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man ihm mittheilte, einen ungemein raschen Fortschritt in der Ver- vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß alle ihre Anstalten von der Vorsehung ganz ausgezeichnet ge-
in der Bibel uͤberhaupt, Ruͤckſicht zu nehmen. Sehr verſtaͤn- dige Maͤnner hielten ſchon die franzoͤſiſche Kokarde fuͤr das Zeichen des Thiers, und glaubten alſo, das Thier aus dem Abgrund ſey ſchon aufgeſtiegen und der Menſch der Suͤnden wirklich da. Dieſe ziemlich allgemeine Senſation unter den wahren Chriſten kam Stilling bedenklich vor und er war Willens, im grauen Manne davor zu warnen.
Auf der andern Seite war es ihm doch auch aͤußerſt wich- tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Praͤlat Bengel ſchon vor fuͤnfzig Jahren in ſeiner Erklaͤrung der Apocalypſe beſtimmt vorausgeſagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und der roͤmiſche Stuhl geſtuͤrzt werden ſollte. Dieſes hatte nun ein Ungenannter in Karlsruhe in einer naͤhern und beſtimm- ten Erlaͤuterung des Bengel’ſchen apocalyptiſchen Rech- nungsſyſtems noch genauer ausfindig gemacht und ſogar die Jahre aus dem neunziger Jahrzehent feſtgeſetzt, in welchen Rom geſtuͤrzt werden ſollte, und dieß achtzehn Jahre vorher, ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte Stilling auf- merkſam auf Bengels Schriften, und beſonders auf das ſo eben beruͤhrte Buch des Karlsruher ungenannten Verfaſſers.
Hier kamen nun noch zwei Umſtaͤnde, die auf Stillings Gemuͤth wirkten, und es zu einer ſo wichtigen Arbeit vorbe- reiteten: Das Heimweh hatte auf verſchiedene Mitglieder der Herrnhuter Bruͤdergemeine tiefen und wohlthaͤtigen Eindruck gemacht; er wurde in dieſer Gemeine bekannter, man fing an, ſeine Lebensgeſchichte allgemeiner zu leſen, und auch ſeine uͤbrigen Schriften, beſonders der graue Mann, wurde durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch- reiſenden Bruͤdern beſucht, auch er las viele ihrer Schriften, mit einem Wort: die Bruͤdergemeine wurde ihm immer ehr- wuͤrdiger, beſonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften uͤberhaupt, und vorzuͤglich in ihren Gemein- und Miſſions- Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man ihm mittheilte, einen ungemein raſchen Fortſchritt in der Ver- vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß alle ihre Anſtalten von der Vorſehung ganz ausgezeichnet ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0514"n="506"/>
in der Bibel uͤberhaupt, Ruͤckſicht zu nehmen. Sehr verſtaͤn-<lb/>
dige Maͤnner hielten ſchon die franzoͤſiſche Kokarde fuͤr das<lb/>
Zeichen des Thiers, und glaubten alſo, das Thier aus dem<lb/>
Abgrund ſey ſchon aufgeſtiegen und der Menſch der Suͤnden<lb/>
wirklich da. Dieſe ziemlich allgemeine Senſation unter den<lb/>
wahren Chriſten kam <hirendition="#g">Stilling</hi> bedenklich vor und er war<lb/>
Willens, im grauen Manne davor zu warnen.</p><lb/><p>Auf der andern Seite war es ihm doch auch aͤußerſt wich-<lb/>
tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Praͤlat <hirendition="#g">Bengel</hi><lb/>ſchon vor fuͤnfzig Jahren in ſeiner Erklaͤrung der Apocalypſe<lb/>
beſtimmt vorausgeſagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent<lb/>
des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und<lb/>
der roͤmiſche Stuhl geſtuͤrzt werden ſollte. Dieſes hatte nun<lb/>
ein Ungenannter in <hirendition="#g">Karlsruhe</hi> in einer naͤhern und beſtimm-<lb/>
ten Erlaͤuterung des <hirendition="#g">Bengel</hi>’ſchen apocalyptiſchen Rech-<lb/>
nungsſyſtems noch genauer ausfindig gemacht und ſogar die<lb/>
Jahre aus dem neunziger Jahrzehent feſtgeſetzt, in welchen<lb/><hirendition="#g">Rom</hi> geſtuͤrzt werden ſollte, und dieß achtzehn Jahre vorher,<lb/>
ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte <hirendition="#g">Stilling</hi> auf-<lb/>
merkſam auf <hirendition="#g">Bengels</hi> Schriften, und beſonders auf das ſo<lb/>
eben beruͤhrte Buch des <hirendition="#g">Karlsruher</hi> ungenannten Verfaſſers.</p><lb/><p>Hier kamen nun noch zwei Umſtaͤnde, die auf <hirendition="#g">Stillings</hi><lb/>
Gemuͤth wirkten, und es zu einer ſo wichtigen Arbeit vorbe-<lb/>
reiteten: Das Heimweh hatte auf verſchiedene Mitglieder der<lb/><hirendition="#g">Herrnhuter Bruͤdergemeine</hi> tiefen und wohlthaͤtigen<lb/>
Eindruck gemacht; er wurde in dieſer Gemeine bekannter, man<lb/>
fing an, ſeine Lebensgeſchichte allgemeiner zu leſen, und auch<lb/>ſeine uͤbrigen Schriften, beſonders der graue Mann, wurde<lb/>
durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch-<lb/>
reiſenden Bruͤdern beſucht, auch er las viele ihrer Schriften,<lb/>
mit einem Wort: die Bruͤdergemeine wurde ihm immer ehr-<lb/>
wuͤrdiger, beſonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften<lb/>
uͤberhaupt, und vorzuͤglich in ihren Gemein- und Miſſions-<lb/>
Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man<lb/>
ihm mittheilte, einen ungemein raſchen Fortſchritt in der Ver-<lb/>
vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß<lb/>
alle ihre Anſtalten von der Vorſehung ganz ausgezeichnet ge-<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[506/0514]
in der Bibel uͤberhaupt, Ruͤckſicht zu nehmen. Sehr verſtaͤn-
dige Maͤnner hielten ſchon die franzoͤſiſche Kokarde fuͤr das
Zeichen des Thiers, und glaubten alſo, das Thier aus dem
Abgrund ſey ſchon aufgeſtiegen und der Menſch der Suͤnden
wirklich da. Dieſe ziemlich allgemeine Senſation unter den
wahren Chriſten kam Stilling bedenklich vor und er war
Willens, im grauen Manne davor zu warnen.
Auf der andern Seite war es ihm doch auch aͤußerſt wich-
tig, daß der bekannte fromme und gelehrte Praͤlat Bengel
ſchon vor fuͤnfzig Jahren in ſeiner Erklaͤrung der Apocalypſe
beſtimmt vorausgeſagt hatte, daß in dem letzten Jahrzehent
des achtzehnten Jahrhunderts der große Kampf anfangen und
der roͤmiſche Stuhl geſtuͤrzt werden ſollte. Dieſes hatte nun
ein Ungenannter in Karlsruhe in einer naͤhern und beſtimm-
ten Erlaͤuterung des Bengel’ſchen apocalyptiſchen Rech-
nungsſyſtems noch genauer ausfindig gemacht und ſogar die
Jahre aus dem neunziger Jahrzehent feſtgeſetzt, in welchen
Rom geſtuͤrzt werden ſollte, und dieß achtzehn Jahre vorher,
ehe es wirklich eintraf. Dieß Alles machte Stilling auf-
merkſam auf Bengels Schriften, und beſonders auf das ſo
eben beruͤhrte Buch des Karlsruher ungenannten Verfaſſers.
Hier kamen nun noch zwei Umſtaͤnde, die auf Stillings
Gemuͤth wirkten, und es zu einer ſo wichtigen Arbeit vorbe-
reiteten: Das Heimweh hatte auf verſchiedene Mitglieder der
Herrnhuter Bruͤdergemeine tiefen und wohlthaͤtigen
Eindruck gemacht; er wurde in dieſer Gemeine bekannter, man
fing an, ſeine Lebensgeſchichte allgemeiner zu leſen, und auch
ſeine uͤbrigen Schriften, beſonders der graue Mann, wurde
durchgehends als erbaulich anerkannt. Er wurde von durch-
reiſenden Bruͤdern beſucht, auch er las viele ihrer Schriften,
mit einem Wort: die Bruͤdergemeine wurde ihm immer ehr-
wuͤrdiger, beſonders auch dadurch, daß er in ihren Schriften
uͤberhaupt, und vorzuͤglich in ihren Gemein- und Miſſions-
Nachrichten, auch Prediger-Konferenz-Protokollen, die man
ihm mittheilte, einen ungemein raſchen Fortſchritt in der Ver-
vollkommnung der Lehre und des Lebens bemerkte, und daß
alle ihre Anſtalten von der Vorſehung ganz ausgezeichnet ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 506. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/514>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.