Dieser Seelenzustand dauert noch immer fort, ausser daß nun eine innige Ruhe, und ein tiefer Seelenfriede damit verbunden ist.
Elise, ob sie gleich selbst sehr litt, war doch immer die einzige Seele unter allen Freunden, der er sich ganz entdecken und mittheilen konnte; sie litt dann noch mehr, ohne ihm helfen zu können; allein ihre Theilnahme und treue Pflege waren ihm denn doch unschätzbare Wohlthaten, und besonders machte ihm ihr Umgang Alles weit erträglicher. Von der Zeit an schloßen sich Beide immer inniger und fester an ein- ander an, und wurden sich wechselseitig immer unentbehrlicher. Ueberhaupt war Stillings ganzer häuslicher Zirkel unaus- sprechlich liebevoll und wohlthätig für ihn; in einer andern Lage hätte er es nicht ausgehalten. Es war auch sehr gut, daß sein Magenkrampf nachzulassen begann: denn mit einem so äußerst geschwächten Körper hätte er es nicht ertragen können.
Stillings Staaroperationen und Augenkuren waren be- sonders gesegnet, und er hatte sie von Elberfeld an bis daher ununterbrochen fortgesetzt, aber sie hatten auch eine dop- pelte Beschwerlichkeit für ihn: seine einmal angenommene Maxime, von welcher er auch nicht abgehen kann, von keiner Staar- oder andern Augenkur Etwas zu fordern, sondern Je- dermann unentgeltlich damit zu dienen, es sey denn, daß ihm Jemand von freien Stücken erkenntlich ist, und ihm -- aber ohne sich wehe zu thun -- ein Geschenk macht, zog ihm einen erstaunlichen Zulauf von Augenkranken zu; jeden Au- genblick wurde er durch solche Leidende an seiner Arbeit unter- brochen, und seine Geduld dadurch aufs äußerste geprüft. Aber die zweite noch größere Beschwerlichkeit war die, daß man ihm von allen Seiten arme Blinde mit Zeugnissen der Armuth zuschickte, ohne daß sie das nöthige Geld zum Unter- halt während der Kur mitbrachten -- einen solchen bedauerns- würdigen Blinden ohne Hülfe, um einiger Gulden willen wie- der zurückzuschicken, das lag in Stillings Charakter nicht. Zwar hatten die Direktoren der beiden protestantischen Wai- senhäuser in Marburg die Güte, solche arme Blinde für eine mäßige Bezahlung während der Kur aufzunehmen und
Dieſer Seelenzuſtand dauert noch immer fort, auſſer daß nun eine innige Ruhe, und ein tiefer Seelenfriede damit verbunden iſt.
Eliſe, ob ſie gleich ſelbſt ſehr litt, war doch immer die einzige Seele unter allen Freunden, der er ſich ganz entdecken und mittheilen konnte; ſie litt dann noch mehr, ohne ihm helfen zu koͤnnen; allein ihre Theilnahme und treue Pflege waren ihm denn doch unſchaͤtzbare Wohlthaten, und beſonders machte ihm ihr Umgang Alles weit ertraͤglicher. Von der Zeit an ſchloßen ſich Beide immer inniger und feſter an ein- ander an, und wurden ſich wechſelſeitig immer unentbehrlicher. Ueberhaupt war Stillings ganzer haͤuslicher Zirkel unaus- ſprechlich liebevoll und wohlthaͤtig fuͤr ihn; in einer andern Lage haͤtte er es nicht ausgehalten. Es war auch ſehr gut, daß ſein Magenkrampf nachzulaſſen begann: denn mit einem ſo aͤußerſt geſchwaͤchten Koͤrper haͤtte er es nicht ertragen koͤnnen.
Stillings Staaroperationen und Augenkuren waren be- ſonders geſegnet, und er hatte ſie von Elberfeld an bis daher ununterbrochen fortgeſetzt, aber ſie hatten auch eine dop- pelte Beſchwerlichkeit fuͤr ihn: ſeine einmal angenommene Maxime, von welcher er auch nicht abgehen kann, von keiner Staar- oder andern Augenkur Etwas zu fordern, ſondern Je- dermann unentgeltlich damit zu dienen, es ſey denn, daß ihm Jemand von freien Stuͤcken erkenntlich iſt, und ihm — aber ohne ſich wehe zu thun — ein Geſchenk macht, zog ihm einen erſtaunlichen Zulauf von Augenkranken zu; jeden Au- genblick wurde er durch ſolche Leidende an ſeiner Arbeit unter- brochen, und ſeine Geduld dadurch aufs aͤußerſte gepruͤft. Aber die zweite noch groͤßere Beſchwerlichkeit war die, daß man ihm von allen Seiten arme Blinde mit Zeugniſſen der Armuth zuſchickte, ohne daß ſie das noͤthige Geld zum Unter- halt waͤhrend der Kur mitbrachten — einen ſolchen bedauerns- wuͤrdigen Blinden ohne Huͤlfe, um einiger Gulden willen wie- der zuruͤckzuſchicken, das lag in Stillings Charakter nicht. Zwar hatten die Direktoren der beiden proteſtantiſchen Wai- ſenhaͤuſer in Marburg die Guͤte, ſolche arme Blinde fuͤr eine maͤßige Bezahlung waͤhrend der Kur aufzunehmen und
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Dieſer Seelenzuſtand dauert noch immer fort, auſſer daß
nun eine innige Ruhe, und ein tiefer Seelenfriede damit
verbunden iſt.
Eliſe, ob ſie gleich ſelbſt ſehr litt, war doch immer die
einzige Seele unter allen Freunden, der er ſich ganz entdecken
und mittheilen konnte; ſie litt dann noch mehr, ohne ihm
helfen zu koͤnnen; allein ihre Theilnahme und treue Pflege
waren ihm denn doch unſchaͤtzbare Wohlthaten, und beſonders
machte ihm ihr Umgang Alles weit ertraͤglicher. Von der
Zeit an ſchloßen ſich Beide immer inniger und feſter an ein-
ander an, und wurden ſich wechſelſeitig immer unentbehrlicher.
Ueberhaupt war Stillings ganzer haͤuslicher Zirkel unaus-
ſprechlich liebevoll und wohlthaͤtig fuͤr ihn; in einer andern
Lage haͤtte er es nicht ausgehalten. Es war auch ſehr gut,
daß ſein Magenkrampf nachzulaſſen begann: denn mit einem
ſo aͤußerſt geſchwaͤchten Koͤrper haͤtte er es nicht ertragen koͤnnen.
Stillings Staaroperationen und Augenkuren waren be-
ſonders geſegnet, und er hatte ſie von Elberfeld an bis
daher ununterbrochen fortgeſetzt, aber ſie hatten auch eine dop-
pelte Beſchwerlichkeit fuͤr ihn: ſeine einmal angenommene
Maxime, von welcher er auch nicht abgehen kann, von keiner
Staar- oder andern Augenkur Etwas zu fordern, ſondern Je-
dermann unentgeltlich damit zu dienen, es ſey denn, daß ihm
Jemand von freien Stuͤcken erkenntlich iſt, und ihm — aber
ohne ſich wehe zu thun — ein Geſchenk macht, zog ihm
einen erſtaunlichen Zulauf von Augenkranken zu; jeden Au-
genblick wurde er durch ſolche Leidende an ſeiner Arbeit unter-
brochen, und ſeine Geduld dadurch aufs aͤußerſte gepruͤft.
Aber die zweite noch groͤßere Beſchwerlichkeit war die, daß
man ihm von allen Seiten arme Blinde mit Zeugniſſen der
Armuth zuſchickte, ohne daß ſie das noͤthige Geld zum Unter-
halt waͤhrend der Kur mitbrachten — einen ſolchen bedauerns-
wuͤrdigen Blinden ohne Huͤlfe, um einiger Gulden willen wie-
der zuruͤckzuſchicken, das lag in Stillings Charakter nicht.
Zwar hatten die Direktoren der beiden proteſtantiſchen Wai-
ſenhaͤuſer in Marburg die Guͤte, ſolche arme Blinde fuͤr
eine maͤßige Bezahlung waͤhrend der Kur aufzunehmen und
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 510. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/518>, abgerufen am 22.11.2024.
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