Hier operirte Stilling verschiedene Blinde; der würdige Pfarrer König wurde auch mit einem Auge vollkommen sehend, außerdem aber bediente er viele Augenpatienten. Einer Opera- tion muß ich noch besonders gedenken, weil dabei Etwas vorfiel, das den Charakter der Schweizerbauern ins Licht stellte: zwei schöne starke Männer, bäurisch aber gut und reinlich gekleidet -- Reinlichkeit ist ein Hauptcharakterzug der Schweizer -- kamen mit einem alten ehrwürdigen Graukopf ins Pfarrhaus, und frag- ten nach dem fremden Doktor; Stilling kam, und nun sagte der Eine: Da bringe wer unsern Vater -- er ischt blend -- chönnterm helfe? -- Stilling besahe seine Augen, und antwortete: Ja, lieben Freunde! Mit Gottes Hülfe soll euer Vater sehend wieder nach Haus gehen. Die Männer schwiegen, aber die hellen Thränen perlten die Wangen herab, dem blinden Greis bebten die Lippen, und die starren Augen wurden naß.
Bei der Operation stellte sich der eine Sohn auf die eine Seite des Vaters, und der Andere auf die andere Seite, in dieser Stel- lung sahen sie zu; als nun alles vorbei war, und der Vater wieder sah, so flossen wieder die Thränen, aber keiner sagte ein Wort, außer daß der älteste fragte: Herr Dochtor! was sind wer schuldig? -- Stilling antwortete: ich bin kein Arzt für Geld, da ich aber auf der Reise bin, und viele Kosten habe, so will ich Etwas annehmen, wenn ihr mir Etwas geben könnt, es darf euch aber im geringsten nicht drücken; -- pathe- tisch erwiederte der älteste Sohn: Uns drücht nichts, wenns unsern Vater betrifft! -- und der Jüngere [ - 3 Zeichen fehlen]te hinzu: Unsere linke Hand nimmt nicht wieder zurück, was die Rechte gegeben hat! -- Das sollte so viel heißen -- das, was wir geben, das geben wir gern. Stil- ling drückte ihnen mit Thränen die Hände, und sagte: Vor- trefflich! -- ihr seyd edle Männer, Gott wird euch segnen!
Stilling und Elise bekamen viele Freunde und Freundin- nen in Burgdorf; man überhäufte sie mit Wohlwollen und Liebeserzeigungen, und die vortreffliche Frau Pfarrerin König beschämte sie durch ihre überfließende treu Verpflegung und Be- wirthung. Hier lernten sie nun auch den berühmten Pesta- lozzi und sein Erziehungs-Institut kennen, das jetzt allenthal-
Hier operirte Stilling verſchiedene Blinde; der wuͤrdige Pfarrer Koͤnig wurde auch mit einem Auge vollkommen ſehend, außerdem aber bediente er viele Augenpatienten. Einer Opera- tion muß ich noch beſonders gedenken, weil dabei Etwas vorfiel, das den Charakter der Schweizerbauern ins Licht ſtellte: zwei ſchoͤne ſtarke Maͤnner, baͤuriſch aber gut und reinlich gekleidet — Reinlichkeit iſt ein Hauptcharakterzug der Schweizer — kamen mit einem alten ehrwuͤrdigen Graukopf ins Pfarrhaus, und frag- ten nach dem fremden Doktor; Stilling kam, und nun ſagte der Eine: Da bringe wer unſern Vater — er iſcht blend — choͤnnterm helfe? — Stilling beſahe ſeine Augen, und antwortete: Ja, lieben Freunde! Mit Gottes Huͤlfe ſoll euer Vater ſehend wieder nach Haus gehen. Die Maͤnner ſchwiegen, aber die hellen Thraͤnen perlten die Wangen herab, dem blinden Greis bebten die Lippen, und die ſtarren Augen wurden naß.
Bei der Operation ſtellte ſich der eine Sohn auf die eine Seite des Vaters, und der Andere auf die andere Seite, in dieſer Stel- lung ſahen ſie zu; als nun alles vorbei war, und der Vater wieder ſah, ſo floſſen wieder die Thraͤnen, aber keiner ſagte ein Wort, außer daß der aͤlteſte fragte: Herr Dochtor! was ſind wer ſchuldig? — Stilling antwortete: ich bin kein Arzt fuͤr Geld, da ich aber auf der Reiſe bin, und viele Koſten habe, ſo will ich Etwas annehmen, wenn ihr mir Etwas geben koͤnnt, es darf euch aber im geringſten nicht druͤcken; — pathe- tiſch erwiederte der aͤlteſte Sohn: Uns druͤcht nichts, wenns unſern Vater betrifft! — und der Juͤngere [ – 3 Zeichen fehlen]te hinzu: Unſere linke Hand nimmt nicht wieder zuruͤck, was die Rechte gegeben hat! — Das ſollte ſo viel heißen — das, was wir geben, das geben wir gern. Stil- ling druͤckte ihnen mit Thraͤnen die Haͤnde, und ſagte: Vor- trefflich! — ihr ſeyd edle Maͤnner, Gott wird euch ſegnen!
Stilling und Eliſe bekamen viele Freunde und Freundin- nen in Burgdorf; man uͤberhaͤufte ſie mit Wohlwollen und Liebeserzeigungen, und die vortreffliche Frau Pfarrerin Koͤnig beſchaͤmte ſie durch ihre uͤberfließende treu Verpflegung und Be- wirthung. Hier lernten ſie nun auch den beruͤhmten Peſta- lozzi und ſein Erziehungs-Inſtitut kennen, das jetzt allenthal-
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Hier operirte Stilling verſchiedene Blinde; der wuͤrdige
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ſchoͤne ſtarke Maͤnner, baͤuriſch aber gut und reinlich gekleidet —
Reinlichkeit iſt ein Hauptcharakterzug der Schweizer — kamen
mit einem alten ehrwuͤrdigen Graukopf ins Pfarrhaus, und frag-
ten nach dem fremden Doktor; Stilling kam, und nun ſagte
der Eine: Da bringe wer unſern Vater — er iſcht
blend — choͤnnterm helfe? — Stilling beſahe ſeine
Augen, und antwortete: Ja, lieben Freunde! Mit Gottes Huͤlfe
ſoll euer Vater ſehend wieder nach Haus gehen. Die Maͤnner
ſchwiegen, aber die hellen Thraͤnen perlten die Wangen herab, dem
blinden Greis bebten die Lippen, und die ſtarren Augen wurden naß.
Bei der Operation ſtellte ſich der eine Sohn auf die eine Seite
des Vaters, und der Andere auf die andere Seite, in dieſer Stel-
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wieder ſah, ſo floſſen wieder die Thraͤnen, aber keiner ſagte ein
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ſind wer ſchuldig? — Stilling antwortete: ich bin kein
Arzt fuͤr Geld, da ich aber auf der Reiſe bin, und viele Koſten
habe, ſo will ich Etwas annehmen, wenn ihr mir Etwas geben
koͤnnt, es darf euch aber im geringſten nicht druͤcken; — pathe-
tiſch erwiederte der aͤlteſte Sohn: Uns druͤcht nichts, wenns
unſern Vater betrifft! — und der Juͤngere ___te hinzu:
Unſere linke Hand nimmt nicht wieder zuruͤck, was
die Rechte gegeben hat! — Das ſollte ſo viel heißen —
das, was wir geben, das geben wir gern. Stil-
ling druͤckte ihnen mit Thraͤnen die Haͤnde, und ſagte: Vor-
trefflich! — ihr ſeyd edle Maͤnner, Gott wird euch ſegnen!
Stilling und Eliſe bekamen viele Freunde und Freundin-
nen in Burgdorf; man uͤberhaͤufte ſie mit Wohlwollen und
Liebeserzeigungen, und die vortreffliche Frau Pfarrerin Koͤnig
beſchaͤmte ſie durch ihre uͤberfließende treu Verpflegung und Be-
wirthung. Hier lernten ſie nun auch den beruͤhmten Peſta-
lozzi und ſein Erziehungs-Inſtitut kennen, das jetzt allenthal-
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Kommentar zur DTA-Ausgabe
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schrifte… [mehr]
1835 als Bd. 1 der posthumen gesammelten Schriften erschienen. Für das DTA wurde aus Gründen der besseren Verfügbarkeit dieses Exemplar statt der Erstauflage (ersch. 1777-1804 bzw. 1817, in fünf bzw. sechs Einzelbänden) digitalisiert.
Jung-Stilling, Johann Heinrich: Lebensgeschichte. Stuttgart, 1835, S. 566. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/jung_lebensgeschichte_1835/574>, abgerufen am 22.11.2024.
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