Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
Auf der Seite des Empirismus in Bestimmung der cosmologischen Ideen, oder der Antithesis
findet sich erstlich, kein solches practisches Interesse aus reinen Principien der Vernunft, als Moral und Re- ligion bey sich führen. Vielmehr scheinet der blosse Em- pirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen. Wenn es kein von der Welt unterschiedenes Urwesen giebt, wenn die Welt ohne Anfang und also auch ohne Urheber, unser Wille nicht frey und die Seele von gleicher Theilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie ist, so verliehren auch die moralische Ideen und Grundsätze alle Gültigkeit, und fallen mit den transscendentalen Ideen, welche ihre theo- retische Stütze ausmachten.
Dagegen bietet aber der Empirism dem specula- tiven Interesse der Vernunft Vortheile an, die sehr an- lockend seyn und dieienige weit übertreffen, die der dog- matische Lehrer der Vernunftideen versprechen mag. Nach ienem ist der Verstand iederzeit auf seinem eigenthümlichen Boden, nemlich dem Felde von lauter möglichen Erfah- rungen, deren Gesetze er nachspühren und vermittelst der- selben er seine sichere und faßliche Erkentniß ohne Ende erweitern kan. Hier kan und soll er den Gegenstand, so wol an sich selbst, als in seinen Verhältnissen, der An- schauung darstellen, oder doch in Begriffen, deren Bild in gegebenen ähnlichen Anschauungen klar und deutlich vorgelegt werden kan. Nicht allein, daß er nicht nöthig hat, diese Kette der Naturordnung zu verlassen, um sich
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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
Auf der Seite des Empirismus in Beſtimmung der cosmologiſchen Ideen, oder der Antitheſis
findet ſich erſtlich, kein ſolches practiſches Intereſſe aus reinen Principien der Vernunft, als Moral und Re- ligion bey ſich fuͤhren. Vielmehr ſcheinet der bloſſe Em- pirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen. Wenn es kein von der Welt unterſchiedenes Urweſen giebt, wenn die Welt ohne Anfang und alſo auch ohne Urheber, unſer Wille nicht frey und die Seele von gleicher Theilbarkeit und Verweslichkeit mit der Materie iſt, ſo verliehren auch die moraliſche Ideen und Grundſaͤtze alle Guͤltigkeit, und fallen mit den transſcendentalen Ideen, welche ihre theo- retiſche Stuͤtze ausmachten.
Dagegen bietet aber der Empirism dem ſpecula- tiven Intereſſe der Vernunft Vortheile an, die ſehr an- lockend ſeyn und dieienige weit uͤbertreffen, die der dog- matiſche Lehrer der Vernunftideen verſprechen mag. Nach ienem iſt der Verſtand iederzeit auf ſeinem eigenthuͤmlichen Boden, nemlich dem Felde von lauter moͤglichen Erfah- rungen, deren Geſetze er nachſpuͤhren und vermittelſt der- ſelben er ſeine ſichere und faßliche Erkentniß ohne Ende erweitern kan. Hier kan und ſoll er den Gegenſtand, ſo wol an ſich ſelbſt, als in ſeinen Verhaͤltniſſen, der An- ſchauung darſtellen, oder doch in Begriffen, deren Bild in gegebenen aͤhnlichen Anſchauungen klar und deutlich vorgelegt werden kan. Nicht allein, daß er nicht noͤthig hat, dieſe Kette der Naturordnung zu verlaſſen, um ſich
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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
Auf der Seite des Empirismus in Beſtimmung
der cosmologiſchen Ideen, oder der Antitheſis
findet ſich erſtlich, kein ſolches practiſches Intereſſe
aus reinen Principien der Vernunft, als Moral und Re-
ligion bey ſich fuͤhren. Vielmehr ſcheinet der bloſſe Em-
pirism beiden alle Kraft und Einfluß zu benehmen. Wenn
es kein von der Welt unterſchiedenes Urweſen giebt, wenn
die Welt ohne Anfang und alſo auch ohne Urheber, unſer
Wille nicht frey und die Seele von gleicher Theilbarkeit
und Verweslichkeit mit der Materie iſt, ſo verliehren auch
die moraliſche Ideen und Grundſaͤtze alle Guͤltigkeit, und
fallen mit den transſcendentalen Ideen, welche ihre theo-
retiſche Stuͤtze ausmachten.
Dagegen bietet aber der Empirism dem ſpecula-
tiven Intereſſe der Vernunft Vortheile an, die ſehr an-
lockend ſeyn und dieienige weit uͤbertreffen, die der dog-
matiſche Lehrer der Vernunftideen verſprechen mag. Nach
ienem iſt der Verſtand iederzeit auf ſeinem eigenthuͤmlichen
Boden, nemlich dem Felde von lauter moͤglichen Erfah-
rungen, deren Geſetze er nachſpuͤhren und vermittelſt der-
ſelben er ſeine ſichere und faßliche Erkentniß ohne Ende
erweitern kan. Hier kan und ſoll er den Gegenſtand, ſo
wol an ſich ſelbſt, als in ſeinen Verhaͤltniſſen, der An-
ſchauung darſtellen, oder doch in Begriffen, deren Bild
in gegebenen aͤhnlichen Anſchauungen klar und deutlich
vorgelegt werden kan. Nicht allein, daß er nicht noͤthig
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/498>, abgerufen am 22.11.2024.
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