Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptst.
Freiheit im practischen Verstande ist die Unabhängigkeit der Willkühr von der Nöthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkühr ist sinnlich, so fern sie pathologisch, (durch Bewegursachen der Sinnlichkeit) afficirt ist; sie heißt thierisch (arbitrium brutum), wenn sie pathologisch necessitirt werden kan. Die menschliche Willkühr ist zwar ein arbitrium sensitiuum, aber nicht brutum, sondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Hand- lung nicht nothwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich unabhängig von der Nöthigung durch sinnliche Antriebe von selbst zu bestimmen.
Man siehet leicht: daß, wenn alle Caussalität in der Sinnenwelt blos Natur wäre, so würde iede Bege- benheit durch eine andere in der Zeit nach nothwendigen Gesetzen bestimt seyn und mithin, da die Erscheinungen, so fern sie die Willkühr bestimmen, iede Handlung als ihren natürlichen Erfolg nothwendig machen müßten: so würde die Aufhebung der transscendentalen Freiheit zu- gleich alle practische Freiheit vertilgen. Denn diese sezt voraus: daß, obgleich etwas nicht geschehen ist, es doch habe geschehen sollen und seine Ursache in der Erscheinung also nicht so bestimmend war, daß nicht in unserer Willkühr eine Caussalität liege, unabhängig von ienen Naturursa- chen und selbst wider ihre Gewalt und Einfluß etwas her- vorzubringen, was in der Zeitordnung nach empirischen Gesetzen bestimt ist, mithin eine Reihe von Begebenhei- ten ganz von selbst anzufangen.
Es
Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
Freiheit im practiſchen Verſtande iſt die Unabhaͤngigkeit der Willkuͤhr von der Noͤthigung durch Antriebe der Sinnlichkeit. Denn eine Willkuͤhr iſt ſinnlich, ſo fern ſie pathologiſch, (durch Bewegurſachen der Sinnlichkeit) afficirt iſt; ſie heißt thieriſch (arbitrium brutum), wenn ſie pathologiſch neceſſitirt werden kan. Die menſchliche Willkuͤhr iſt zwar ein arbitrium ſenſitiuum, aber nicht brutum, ſondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Hand- lung nicht nothwendig macht, ſondern dem Menſchen ein Vermoͤgen beiwohnt, ſich unabhaͤngig von der Noͤthigung durch ſinnliche Antriebe von ſelbſt zu beſtimmen.
Man ſiehet leicht: daß, wenn alle Cauſſalitaͤt in der Sinnenwelt blos Natur waͤre, ſo wuͤrde iede Bege- benheit durch eine andere in der Zeit nach nothwendigen Geſetzen beſtimt ſeyn und mithin, da die Erſcheinungen, ſo fern ſie die Willkuͤhr beſtimmen, iede Handlung als ihren natuͤrlichen Erfolg nothwendig machen muͤßten: ſo wuͤrde die Aufhebung der transſcendentalen Freiheit zu- gleich alle practiſche Freiheit vertilgen. Denn dieſe ſezt voraus: daß, obgleich etwas nicht geſchehen iſt, es doch habe geſchehen ſollen und ſeine Urſache in der Erſcheinung alſo nicht ſo beſtimmend war, daß nicht in unſerer Willkuͤhr eine Cauſſalitaͤt liege, unabhaͤngig von ienen Natururſa- chen und ſelbſt wider ihre Gewalt und Einfluß etwas her- vorzubringen, was in der Zeitordnung nach empiriſchen Geſetzen beſtimt iſt, mithin eine Reihe von Begebenhei- ten ganz von ſelbſt anzufangen.
Es
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Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. II. Hauptſt.
Freiheit im practiſchen Verſtande iſt die Unabhaͤngigkeit
der Willkuͤhr von der Noͤthigung durch Antriebe der
Sinnlichkeit. Denn eine Willkuͤhr iſt ſinnlich, ſo fern ſie
pathologiſch, (durch Bewegurſachen der Sinnlichkeit)
afficirt iſt; ſie heißt thieriſch (arbitrium brutum), wenn
ſie pathologiſch neceſſitirt werden kan. Die menſchliche
Willkuͤhr iſt zwar ein arbitrium ſenſitiuum, aber nicht
brutum, ſondern liberum, weil Sinnlichkeit ihre Hand-
lung nicht nothwendig macht, ſondern dem Menſchen ein
Vermoͤgen beiwohnt, ſich unabhaͤngig von der Noͤthigung
durch ſinnliche Antriebe von ſelbſt zu beſtimmen.
Man ſiehet leicht: daß, wenn alle Cauſſalitaͤt in
der Sinnenwelt blos Natur waͤre, ſo wuͤrde iede Bege-
benheit durch eine andere in der Zeit nach nothwendigen
Geſetzen beſtimt ſeyn und mithin, da die Erſcheinungen,
ſo fern ſie die Willkuͤhr beſtimmen, iede Handlung als
ihren natuͤrlichen Erfolg nothwendig machen muͤßten: ſo
wuͤrde die Aufhebung der transſcendentalen Freiheit zu-
gleich alle practiſche Freiheit vertilgen. Denn dieſe ſezt
voraus: daß, obgleich etwas nicht geſchehen iſt, es doch
habe geſchehen ſollen und ſeine Urſache in der Erſcheinung
alſo nicht ſo beſtimmend war, daß nicht in unſerer Willkuͤhr
eine Cauſſalitaͤt liege, unabhaͤngig von ienen Natururſa-
chen und ſelbſt wider ihre Gewalt und Einfluß etwas her-
vorzubringen, was in der Zeitordnung nach empiriſchen
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Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 534. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/564>, abgerufen am 22.11.2024.
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