Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Disciplin der reinen Vernunft im polem. etc.
Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich die des Wissens
habt aufgeben müssen.

Wenn man den kaltblütigen, zum Gleichgewichte
des Urtheils eigentlich geschaffenen David Hume fragen
solte: was bewog euch, durch mühsam ergrübelte Be-
denklichkeiten, die vor den Menschen so tröstliche und nütz-
liche Ueberredung, daß ihre Vernunfteinsicht zur Behaup-
tung und dem bestimten Begriff eines höchsten Wesens zu-
lange, zu untergraben? so würde er antworten: nichts,
als die Absicht, die Vernunft in ihrer Selbsterkentniß wei-
ter zu bringen und zugleich ein gewisser Unwille über den
Zwang, den man der Vernunft anthun will, indem man
mit ihr groß thut und sie zugleich hindert, ein freimüthi-
ges Geständniß ihrer Schwächen abzulegen, die ihr bey
der Prüfung ihrer Selbst offenbar werden. Fragt ihr
dagegen den, den Grundsätzen des empirischen Vernunft-
gebrauchs allein ergebenen, und aller transscendenten Spe-
culation abgeneigten Priestley, was er vor Bewegungs-
gründe gehabt habe, unserer Seele Freiheit und Unsterb-
lichkeit (die Hoffnung des künftigen Lebens ist bey ihm
nur die Erwartung eines Wunders der Wiedererweckung),
zwey solche Grundpfeiler aller Religion niederzureissen, er,
der selbst ein frommer und eifriger Lehrer der Religion ist,
so würde er nichts anders antworten können, als: das In-
teresse der Vernunft, welche dadurch verliert, daß man
gewisse Gegenstände den Gesetzen der materiellen Natur,
den einzigen, die wir genau kennen und bestimmen können,

entzie-
A a a 5

Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
Glaubens zu ſprechen, wenn ihr gleich die des Wiſſens
habt aufgeben muͤſſen.

Wenn man den kaltbluͤtigen, zum Gleichgewichte
des Urtheils eigentlich geſchaffenen David Hume fragen
ſolte: was bewog euch, durch muͤhſam ergruͤbelte Be-
denklichkeiten, die vor den Menſchen ſo troͤſtliche und nuͤtz-
liche Ueberredung, daß ihre Vernunfteinſicht zur Behaup-
tung und dem beſtimten Begriff eines hoͤchſten Weſens zu-
lange, zu untergraben? ſo wuͤrde er antworten: nichts,
als die Abſicht, die Vernunft in ihrer Selbſterkentniß wei-
ter zu bringen und zugleich ein gewiſſer Unwille uͤber den
Zwang, den man der Vernunft anthun will, indem man
mit ihr groß thut und ſie zugleich hindert, ein freimuͤthi-
ges Geſtaͤndniß ihrer Schwaͤchen abzulegen, die ihr bey
der Pruͤfung ihrer Selbſt offenbar werden. Fragt ihr
dagegen den, den Grundſaͤtzen des empiriſchen Vernunft-
gebrauchs allein ergebenen, und aller transſcendenten Spe-
culation abgeneigten Prieſtley, was er vor Bewegungs-
gruͤnde gehabt habe, unſerer Seele Freiheit und Unſterb-
lichkeit (die Hoffnung des kuͤnftigen Lebens iſt bey ihm
nur die Erwartung eines Wunders der Wiedererweckung),
zwey ſolche Grundpfeiler aller Religion niederzureiſſen, er,
der ſelbſt ein frommer und eifriger Lehrer der Religion iſt,
ſo wuͤrde er nichts anders antworten koͤnnen, als: das In-
tereſſe der Vernunft, welche dadurch verliert, daß man
gewiſſe Gegenſtaͤnde den Geſetzen der materiellen Natur,
den einzigen, die wir genau kennen und beſtimmen koͤnnen,

entzie-
A a a 5
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0775" n="745"/><fw place="top" type="header">Die Di&#x017F;ciplin der reinen Vernunft im polem. &#xA75B;c.</fw><lb/><hi rendition="#fr">Glaubens</hi> zu &#x017F;prechen, wenn ihr gleich die des <hi rendition="#fr">Wi&#x017F;&#x017F;ens</hi><lb/>
habt aufgeben mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en.</p><lb/>
            <p>Wenn man den kaltblu&#x0364;tigen, zum Gleichgewichte<lb/>
des Urtheils eigentlich ge&#x017F;chaffenen <hi rendition="#fr">David Hume</hi> fragen<lb/>
&#x017F;olte: was bewog euch, durch mu&#x0364;h&#x017F;am ergru&#x0364;belte Be-<lb/>
denklichkeiten, die vor den Men&#x017F;chen &#x017F;o tro&#x0364;&#x017F;tliche und nu&#x0364;tz-<lb/>
liche Ueberredung, daß ihre Vernunftein&#x017F;icht zur Behaup-<lb/>
tung und dem be&#x017F;timten Begriff eines ho&#x0364;ch&#x017F;ten We&#x017F;ens zu-<lb/>
lange, zu untergraben? &#x017F;o wu&#x0364;rde er antworten: nichts,<lb/>
als die Ab&#x017F;icht, die Vernunft in ihrer Selb&#x017F;terkentniß wei-<lb/>
ter zu bringen und zugleich ein gewi&#x017F;&#x017F;er Unwille u&#x0364;ber den<lb/>
Zwang, den man der Vernunft anthun will, indem man<lb/>
mit ihr groß thut und &#x017F;ie zugleich hindert, ein freimu&#x0364;thi-<lb/>
ges Ge&#x017F;ta&#x0364;ndniß ihrer Schwa&#x0364;chen abzulegen, die ihr bey<lb/>
der Pru&#x0364;fung ihrer Selb&#x017F;t offenbar werden. Fragt ihr<lb/>
dagegen den, den Grund&#x017F;a&#x0364;tzen des empiri&#x017F;chen Vernunft-<lb/>
gebrauchs allein ergebenen, und aller trans&#x017F;cendenten Spe-<lb/>
culation abgeneigten <hi rendition="#fr">Prie&#x017F;tley,</hi> was er vor Bewegungs-<lb/>
gru&#x0364;nde gehabt habe, un&#x017F;erer Seele Freiheit und Un&#x017F;terb-<lb/>
lichkeit (die Hoffnung des ku&#x0364;nftigen Lebens i&#x017F;t bey ihm<lb/>
nur die Erwartung eines Wunders der Wiedererweckung),<lb/>
zwey &#x017F;olche Grundpfeiler aller Religion niederzurei&#x017F;&#x017F;en, er,<lb/>
der &#x017F;elb&#x017F;t ein frommer und eifriger Lehrer der Religion i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rde er nichts anders antworten ko&#x0364;nnen, als: das In-<lb/>
tere&#x017F;&#x017F;e der Vernunft, welche dadurch verliert, daß man<lb/>
gewi&#x017F;&#x017F;e Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde den Ge&#x017F;etzen der materiellen Natur,<lb/>
den einzigen, die wir genau kennen und be&#x017F;timmen ko&#x0364;nnen,<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">A a a 5</fw><fw place="bottom" type="catch">entzie-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[745/0775] Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc. Glaubens zu ſprechen, wenn ihr gleich die des Wiſſens habt aufgeben muͤſſen. Wenn man den kaltbluͤtigen, zum Gleichgewichte des Urtheils eigentlich geſchaffenen David Hume fragen ſolte: was bewog euch, durch muͤhſam ergruͤbelte Be- denklichkeiten, die vor den Menſchen ſo troͤſtliche und nuͤtz- liche Ueberredung, daß ihre Vernunfteinſicht zur Behaup- tung und dem beſtimten Begriff eines hoͤchſten Weſens zu- lange, zu untergraben? ſo wuͤrde er antworten: nichts, als die Abſicht, die Vernunft in ihrer Selbſterkentniß wei- ter zu bringen und zugleich ein gewiſſer Unwille uͤber den Zwang, den man der Vernunft anthun will, indem man mit ihr groß thut und ſie zugleich hindert, ein freimuͤthi- ges Geſtaͤndniß ihrer Schwaͤchen abzulegen, die ihr bey der Pruͤfung ihrer Selbſt offenbar werden. Fragt ihr dagegen den, den Grundſaͤtzen des empiriſchen Vernunft- gebrauchs allein ergebenen, und aller transſcendenten Spe- culation abgeneigten Prieſtley, was er vor Bewegungs- gruͤnde gehabt habe, unſerer Seele Freiheit und Unſterb- lichkeit (die Hoffnung des kuͤnftigen Lebens iſt bey ihm nur die Erwartung eines Wunders der Wiedererweckung), zwey ſolche Grundpfeiler aller Religion niederzureiſſen, er, der ſelbſt ein frommer und eifriger Lehrer der Religion iſt, ſo wuͤrde er nichts anders antworten koͤnnen, als: das In- tereſſe der Vernunft, welche dadurch verliert, daß man gewiſſe Gegenſtaͤnde den Geſetzen der materiellen Natur, den einzigen, die wir genau kennen und beſtimmen koͤnnen, entzie- A a a 5

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/775
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 745. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/775>, abgerufen am 16.07.2024.