Wichtigkeit geben, die sie gar nicht haben solten. Wenn ich höre: daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menschlichen Willen, die Hoffnung eines künftigen Lebens, und das Daseyn Gottes wegdemonstrirt haben solle, so bin ich begierig, das Buch zu lesen, denn ich erwarte von seinem Talent, daß er meine Einsichten weiter bringen werde. Das weis ich schon zum voraus völlig gewiß: daß er nichts von allem diesem wird geleistet haben, nicht dar- um, weil ich etwa schon im Besitze unbezwinglicher Be- weise dieser wichtigen Sätze zu seyn glaubete, sondern weil mich die transscendentale Critik, die mir den ganzen Vorrath unserer reinen Vernunft aufdeckte, völlig über- zeugt hat, daß, so wie sie zu beiahenden Behauptungen in diesem Felde ganz unzulänglich ist, so wenig und noch weniger werde sie wissen, um über diese Fragen etwas verneinend behaupten zu können. Denn, wo will der angebliche Freigeist seine Kentniß hernehmen, daß es z. B. kein höchstes Wesen gebe. Dieser Satz liegt ausserhalb dem Felde möglicher Erfahrung, und darum auch ausser den Gränzen aller menschlichen Einsicht. Den dogmatischen Vertheidiger der guten Sache gegen diesen Feind würde ich gar nicht lesen, weil ich zum voraus weis: daß er nur darum die Scheingründe des anderen angreifen werde, um seinen eigenen Eingang zu verschaffen, über dem ein alltägiger Schein doch nicht so viel Stoff zu neuen Bemer- kungen giebt, als ein befremdlicher und sinnreich ausge- dachter. Hingegen würde der, nach seiner Art, auch dog-
mati-
B b b
Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
Wichtigkeit geben, die ſie gar nicht haben ſolten. Wenn ich hoͤre: daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des menſchlichen Willen, die Hoffnung eines kuͤnftigen Lebens, und das Daſeyn Gottes wegdemonſtrirt haben ſolle, ſo bin ich begierig, das Buch zu leſen, denn ich erwarte von ſeinem Talent, daß er meine Einſichten weiter bringen werde. Das weis ich ſchon zum voraus voͤllig gewiß: daß er nichts von allem dieſem wird geleiſtet haben, nicht dar- um, weil ich etwa ſchon im Beſitze unbezwinglicher Be- weiſe dieſer wichtigen Saͤtze zu ſeyn glaubete, ſondern weil mich die transſcendentale Critik, die mir den ganzen Vorrath unſerer reinen Vernunft aufdeckte, voͤllig uͤber- zeugt hat, daß, ſo wie ſie zu beiahenden Behauptungen in dieſem Felde ganz unzulaͤnglich iſt, ſo wenig und noch weniger werde ſie wiſſen, um uͤber dieſe Fragen etwas verneinend behaupten zu koͤnnen. Denn, wo will der angebliche Freigeiſt ſeine Kentniß hernehmen, daß es z. B. kein hoͤchſtes Weſen gebe. Dieſer Satz liegt auſſerhalb dem Felde moͤglicher Erfahrung, und darum auch auſſer den Graͤnzen aller menſchlichen Einſicht. Den dogmatiſchen Vertheidiger der guten Sache gegen dieſen Feind wuͤrde ich gar nicht leſen, weil ich zum voraus weis: daß er nur darum die Scheingruͤnde des anderen angreifen werde, um ſeinen eigenen Eingang zu verſchaffen, uͤber dem ein alltaͤgiger Schein doch nicht ſo viel Stoff zu neuen Bemer- kungen giebt, als ein befremdlicher und ſinnreich ausge- dachter. Hingegen wuͤrde der, nach ſeiner Art, auch dog-
mati-
B b b
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0783"n="753"/><fwplace="top"type="header">Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.</fw><lb/>
Wichtigkeit geben, die ſie gar nicht haben ſolten. Wenn<lb/>
ich hoͤre: daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des<lb/>
menſchlichen Willen, die Hoffnung eines kuͤnftigen Lebens,<lb/>
und das Daſeyn Gottes wegdemonſtrirt haben ſolle, ſo<lb/>
bin ich begierig, das Buch zu leſen, denn ich erwarte von<lb/>ſeinem Talent, daß er meine Einſichten weiter bringen<lb/>
werde. Das weis ich ſchon zum voraus voͤllig gewiß: daß<lb/>
er nichts von allem dieſem wird geleiſtet haben, nicht dar-<lb/>
um, weil ich etwa ſchon im Beſitze unbezwinglicher Be-<lb/>
weiſe dieſer wichtigen Saͤtze zu ſeyn glaubete, ſondern<lb/>
weil mich die transſcendentale Critik, die mir den ganzen<lb/>
Vorrath unſerer reinen Vernunft aufdeckte, voͤllig uͤber-<lb/>
zeugt hat, daß, ſo wie ſie zu beiahenden Behauptungen<lb/>
in dieſem Felde ganz unzulaͤnglich iſt, ſo wenig und noch<lb/>
weniger werde ſie wiſſen, um uͤber dieſe Fragen etwas<lb/>
verneinend behaupten zu koͤnnen. Denn, wo will der<lb/>
angebliche Freigeiſt ſeine Kentniß hernehmen, daß es z. B.<lb/>
kein hoͤchſtes Weſen gebe. Dieſer Satz liegt auſſerhalb<lb/>
dem Felde moͤglicher Erfahrung, und darum auch auſſer<lb/>
den Graͤnzen aller menſchlichen Einſicht. Den dogmatiſchen<lb/>
Vertheidiger der guten Sache gegen dieſen Feind wuͤrde ich<lb/>
gar nicht leſen, weil ich zum voraus weis: daß er nur<lb/>
darum die Scheingruͤnde des anderen angreifen werde,<lb/>
um ſeinen eigenen Eingang zu verſchaffen, uͤber dem ein<lb/>
alltaͤgiger Schein doch nicht ſo viel Stoff zu neuen Bemer-<lb/>
kungen giebt, als ein befremdlicher und ſinnreich ausge-<lb/>
dachter. Hingegen wuͤrde der, nach ſeiner Art, auch dog-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">B b b</fw><fwplace="bottom"type="catch">mati-</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[753/0783]
Die Diſciplin der reinen Vernunft im polem. ꝛc.
Wichtigkeit geben, die ſie gar nicht haben ſolten. Wenn
ich hoͤre: daß ein nicht gemeiner Kopf die Freiheit des
menſchlichen Willen, die Hoffnung eines kuͤnftigen Lebens,
und das Daſeyn Gottes wegdemonſtrirt haben ſolle, ſo
bin ich begierig, das Buch zu leſen, denn ich erwarte von
ſeinem Talent, daß er meine Einſichten weiter bringen
werde. Das weis ich ſchon zum voraus voͤllig gewiß: daß
er nichts von allem dieſem wird geleiſtet haben, nicht dar-
um, weil ich etwa ſchon im Beſitze unbezwinglicher Be-
weiſe dieſer wichtigen Saͤtze zu ſeyn glaubete, ſondern
weil mich die transſcendentale Critik, die mir den ganzen
Vorrath unſerer reinen Vernunft aufdeckte, voͤllig uͤber-
zeugt hat, daß, ſo wie ſie zu beiahenden Behauptungen
in dieſem Felde ganz unzulaͤnglich iſt, ſo wenig und noch
weniger werde ſie wiſſen, um uͤber dieſe Fragen etwas
verneinend behaupten zu koͤnnen. Denn, wo will der
angebliche Freigeiſt ſeine Kentniß hernehmen, daß es z. B.
kein hoͤchſtes Weſen gebe. Dieſer Satz liegt auſſerhalb
dem Felde moͤglicher Erfahrung, und darum auch auſſer
den Graͤnzen aller menſchlichen Einſicht. Den dogmatiſchen
Vertheidiger der guten Sache gegen dieſen Feind wuͤrde ich
gar nicht leſen, weil ich zum voraus weis: daß er nur
darum die Scheingruͤnde des anderen angreifen werde,
um ſeinen eigenen Eingang zu verſchaffen, uͤber dem ein
alltaͤgiger Schein doch nicht ſo viel Stoff zu neuen Bemer-
kungen giebt, als ein befremdlicher und ſinnreich ausge-
dachter. Hingegen wuͤrde der, nach ſeiner Art, auch dog-
mati-
B b b
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Kant, Immanuel: Critik der reinen Vernunft. Riga, 1781, S. 753. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_rvernunft_1781/783>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.