Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790.

Bild:
<< vorherige Seite

I. Th. Critik der ästhetischen Urtheilskraft.
dungskraft lebendig erhalten wird) bewirken kann, her-
vorbringe, weil die letztere immer nur die relative Größe
durch Vergleichung mit andern gleicher Art, die erstere
aber die Größe schlechthin, so weit das Gemüth sie in
einer Anschauung fassen kann, darstellt.

Anschaulich ein Quantum in die Einbildungskraft
aufzunehmen, um es zum Maaße, oder als Einheit,
zu Größenschätzung durch Zahlen brauchen zu können,
dazu gehören zwey Handlungen dieses Vermögens:
Auffassung (apprehensio) und Zusammensetzung
(comprehensio aesthetica). Mit der Auffassung hat es
keine Noth; denn damit kann es ins Unendliche gehen;
aber die Zusammenfassung wird immer schwerer, je wei-
ter die Auffassung fortrückt und gelangt bald zu ihrem
Maximum, nämlich dem ästhetisch- größten Grund-
maaße der Größenschätzung. Denn, wenn die Auffas-
sung so weit gelanget ist, daß die zuerst aufgefaßten
Theilvorstellungen der Sinnenanschauung in der Einbil-
dungskraft schon zu erlöschen anheben, indessen daß diese
zu Auffassung mehrerer fortrückt, so verliert sie auf einer
Seite eben so viel als sie auf der andern gewinnt, und
in der Zusammenfassung ist ein Größtes, über welches
sie nicht hinauskommen kann.

Daraus läßt sich erklären, was Savary in seinen
Nachrichten von Aegypten anmerkt: daß man den Py-
ramiden nicht sehr nahe kommen, eben so wenig als zu
weit davon entfernt seyn müsse, um die ganze Rührung

I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
dungskraft lebendig erhalten wird) bewirken kann, her-
vorbringe, weil die letztere immer nur die relative Groͤße
durch Vergleichung mit andern gleicher Art, die erſtere
aber die Groͤße ſchlechthin, ſo weit das Gemuͤth ſie in
einer Anſchauung faſſen kann, darſtellt.

Anſchaulich ein Quantum in die Einbildungskraft
aufzunehmen, um es zum Maaße, oder als Einheit,
zu Groͤßenſchaͤtzung durch Zahlen brauchen zu koͤnnen,
dazu gehoͤren zwey Handlungen dieſes Vermoͤgens:
Auffaſſung (apprehenſio) und Zuſammenſetzung
(comprehenſio aeſthetica). Mit der Auffaſſung hat es
keine Noth; denn damit kann es ins Unendliche gehen;
aber die Zuſammenfaſſung wird immer ſchwerer, je wei-
ter die Auffaſſung fortruͤckt und gelangt bald zu ihrem
Maximum, naͤmlich dem aͤſthetiſch- groͤßten Grund-
maaße der Groͤßenſchaͤtzung. Denn, wenn die Auffaſ-
ſung ſo weit gelanget iſt, daß die zuerſt aufgefaßten
Theilvorſtellungen der Sinnenanſchauung in der Einbil-
dungskraft ſchon zu erloͤſchen anheben, indeſſen daß dieſe
zu Auffaſſung mehrerer fortruͤckt, ſo verliert ſie auf einer
Seite eben ſo viel als ſie auf der andern gewinnt, und
in der Zuſammenfaſſung iſt ein Groͤßtes, uͤber welches
ſie nicht hinauskommen kann.

Daraus laͤßt ſich erklaͤren, was Savary in ſeinen
Nachrichten von Aegypten anmerkt: daß man den Py-
ramiden nicht ſehr nahe kommen, eben ſo wenig als zu
weit davon entfernt ſeyn muͤſſe, um die ganze Ruͤhrung

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0150" n="86"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">I.</hi> Th. Critik der a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;chen Urtheilskraft.</fw><lb/>
dungskraft lebendig erhalten wird) bewirken kann, her-<lb/>
vorbringe, weil die letztere immer nur die relative Gro&#x0364;ße<lb/>
durch Vergleichung mit andern gleicher Art, die er&#x017F;tere<lb/>
aber die Gro&#x0364;ße &#x017F;chlechthin, &#x017F;o weit das Gemu&#x0364;th &#x017F;ie in<lb/>
einer An&#x017F;chauung fa&#x017F;&#x017F;en kann, dar&#x017F;tellt.</p><lb/>
                <p>An&#x017F;chaulich ein Quantum in die Einbildungskraft<lb/>
aufzunehmen, um es zum Maaße, oder als Einheit,<lb/>
zu Gro&#x0364;ßen&#x017F;cha&#x0364;tzung durch Zahlen brauchen zu ko&#x0364;nnen,<lb/>
dazu geho&#x0364;ren zwey Handlungen die&#x017F;es Vermo&#x0364;gens:<lb/><hi rendition="#fr">Auffa&#x017F;&#x017F;ung</hi> (<hi rendition="#aq">apprehen&#x017F;io</hi>) und <hi rendition="#fr">Zu&#x017F;ammen&#x017F;etzung</hi><lb/>
(<hi rendition="#aq">comprehen&#x017F;io ae&#x017F;thetica</hi>). Mit der Auffa&#x017F;&#x017F;ung hat es<lb/>
keine Noth; denn damit kann es ins Unendliche gehen;<lb/>
aber die Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung wird immer &#x017F;chwerer, je wei-<lb/>
ter die Auffa&#x017F;&#x017F;ung fortru&#x0364;ckt und gelangt bald zu ihrem<lb/>
Maximum, na&#x0364;mlich dem a&#x0364;&#x017F;theti&#x017F;ch- gro&#x0364;ßten Grund-<lb/>
maaße der Gro&#x0364;ßen&#x017F;cha&#x0364;tzung. Denn, wenn die Auffa&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ung &#x017F;o weit gelanget i&#x017F;t, daß die zuer&#x017F;t aufgefaßten<lb/>
Theilvor&#x017F;tellungen der Sinnenan&#x017F;chauung in der Einbil-<lb/>
dungskraft &#x017F;chon zu erlo&#x0364;&#x017F;chen anheben, inde&#x017F;&#x017F;en daß die&#x017F;e<lb/>
zu Auffa&#x017F;&#x017F;ung mehrerer fortru&#x0364;ckt, &#x017F;o verliert &#x017F;ie auf einer<lb/>
Seite eben &#x017F;o viel als &#x017F;ie auf der andern gewinnt, und<lb/>
in der Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung i&#x017F;t ein Gro&#x0364;ßtes, u&#x0364;ber welches<lb/>
&#x017F;ie nicht hinauskommen kann.</p><lb/>
                <p>Daraus la&#x0364;ßt &#x017F;ich erkla&#x0364;ren, was <hi rendition="#fr">Savary</hi> in &#x017F;einen<lb/>
Nachrichten von Aegypten anmerkt: daß man den Py-<lb/>
ramiden nicht &#x017F;ehr nahe kommen, eben &#x017F;o wenig als zu<lb/>
weit davon entfernt &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, um die ganze Ru&#x0364;hrung<lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[86/0150] I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft. dungskraft lebendig erhalten wird) bewirken kann, her- vorbringe, weil die letztere immer nur die relative Groͤße durch Vergleichung mit andern gleicher Art, die erſtere aber die Groͤße ſchlechthin, ſo weit das Gemuͤth ſie in einer Anſchauung faſſen kann, darſtellt. Anſchaulich ein Quantum in die Einbildungskraft aufzunehmen, um es zum Maaße, oder als Einheit, zu Groͤßenſchaͤtzung durch Zahlen brauchen zu koͤnnen, dazu gehoͤren zwey Handlungen dieſes Vermoͤgens: Auffaſſung (apprehenſio) und Zuſammenſetzung (comprehenſio aeſthetica). Mit der Auffaſſung hat es keine Noth; denn damit kann es ins Unendliche gehen; aber die Zuſammenfaſſung wird immer ſchwerer, je wei- ter die Auffaſſung fortruͤckt und gelangt bald zu ihrem Maximum, naͤmlich dem aͤſthetiſch- groͤßten Grund- maaße der Groͤßenſchaͤtzung. Denn, wenn die Auffaſ- ſung ſo weit gelanget iſt, daß die zuerſt aufgefaßten Theilvorſtellungen der Sinnenanſchauung in der Einbil- dungskraft ſchon zu erloͤſchen anheben, indeſſen daß dieſe zu Auffaſſung mehrerer fortruͤckt, ſo verliert ſie auf einer Seite eben ſo viel als ſie auf der andern gewinnt, und in der Zuſammenfaſſung iſt ein Groͤßtes, uͤber welches ſie nicht hinauskommen kann. Daraus laͤßt ſich erklaͤren, was Savary in ſeinen Nachrichten von Aegypten anmerkt: daß man den Py- ramiden nicht ſehr nahe kommen, eben ſo wenig als zu weit davon entfernt ſeyn muͤſſe, um die ganze Ruͤhrung

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/150
Zitationshilfe: Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/150>, abgerufen am 04.12.2024.