dern jedem unmittelbar von der Hand der Natur ertheilt seyn will, mit ihm also stirbt, bis die Natur einmal einen andern wiederum eben so begabt, der nichts weiter als eines Beyspiels bedarf, um das Talent, dessen er sich bewußt ist, auf ähnliche Art wirken zu lassen.
Da die Naturgabe der Kunst (als schönen Kunst) die Regel geben muß, welcherley Art ist denn diese Re- gel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorschrift dienen, denn sonst würde das Urtheil über das Schöne nach Begriffen bestimmbar seyn, sondern die Regel muß von der That d. i. vom Product abstrahirt werden, an welchem andere ihr eigenes Talent prüfen mögen, um sich jenes zum Muster, nicht der Nachmachung, sondern der Nachahmung, dienen zu lassen. Wie dieses möglich sey, ist schwer zu erklären. Die Jdeen des Künstlers er- regen ähnliche Jdeen seines Lehrlings, wenn ihn die Na- tur mit einer ähnlichen Proportion der Gemüthskräfte versehen hat. Die Muster der schönen Kunst sind daher die einzige Leitungsmittel diese auf die Nachkommen- schaft zu bringen, welches durch bloße Beschreibungen nicht geschehen könnte (vornehmlich nicht im Fache der redenden Künste) und auch in diesen können nur die in alten, todten und jetzt nur als gelehrte aufbehaltenen Sprachen classisch werden.
Ob zwar mechanische und schöne Kunst, die erste als bloße Kunst des Fleißes und der Erlernung, die zweyte als die des Genie's, sehr von einander unterschie-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
dern jedem unmittelbar von der Hand der Natur ertheilt ſeyn will, mit ihm alſo ſtirbt, bis die Natur einmal einen andern wiederum eben ſo begabt, der nichts weiter als eines Beyſpiels bedarf, um das Talent, deſſen er ſich bewußt iſt, auf aͤhnliche Art wirken zu laſſen.
Da die Naturgabe der Kunſt (als ſchoͤnen Kunſt) die Regel geben muß, welcherley Art iſt denn dieſe Re- gel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorſchrift dienen, denn ſonſt wuͤrde das Urtheil uͤber das Schoͤne nach Begriffen beſtimmbar ſeyn, ſondern die Regel muß von der That d. i. vom Product abſtrahirt werden, an welchem andere ihr eigenes Talent pruͤfen moͤgen, um ſich jenes zum Muſter, nicht der Nachmachung, ſondern der Nachahmung, dienen zu laſſen. Wie dieſes moͤglich ſey, iſt ſchwer zu erklaͤren. Die Jdeen des Kuͤnſtlers er- regen aͤhnliche Jdeen ſeines Lehrlings, wenn ihn die Na- tur mit einer aͤhnlichen Proportion der Gemuͤthskraͤfte verſehen hat. Die Muſter der ſchoͤnen Kunſt ſind daher die einzige Leitungsmittel dieſe auf die Nachkommen- ſchaft zu bringen, welches durch bloße Beſchreibungen nicht geſchehen koͤnnte (vornehmlich nicht im Fache der redenden Kuͤnſte) und auch in dieſen koͤnnen nur die in alten, todten und jetzt nur als gelehrte aufbehaltenen Sprachen claſſiſch werden.
Ob zwar mechaniſche und ſchoͤne Kunſt, die erſte als bloße Kunſt des Fleißes und der Erlernung, die zweyte als die des Genie’s, ſehr von einander unterſchie-
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I. Th. Critik der aͤſthetiſchen Urtheilskraft.
dern jedem unmittelbar von der Hand der Natur ertheilt
ſeyn will, mit ihm alſo ſtirbt, bis die Natur einmal
einen andern wiederum eben ſo begabt, der nichts weiter
als eines Beyſpiels bedarf, um das Talent, deſſen er
ſich bewußt iſt, auf aͤhnliche Art wirken zu laſſen.
Da die Naturgabe der Kunſt (als ſchoͤnen Kunſt)
die Regel geben muß, welcherley Art iſt denn dieſe Re-
gel? Sie kann in keiner Formel abgefaßt zur Vorſchrift
dienen, denn ſonſt wuͤrde das Urtheil uͤber das Schoͤne
nach Begriffen beſtimmbar ſeyn, ſondern die Regel muß
von der That d. i. vom Product abſtrahirt werden, an
welchem andere ihr eigenes Talent pruͤfen moͤgen, um
ſich jenes zum Muſter, nicht der Nachmachung, ſondern
der Nachahmung, dienen zu laſſen. Wie dieſes moͤglich
ſey, iſt ſchwer zu erklaͤren. Die Jdeen des Kuͤnſtlers er-
regen aͤhnliche Jdeen ſeines Lehrlings, wenn ihn die Na-
tur mit einer aͤhnlichen Proportion der Gemuͤthskraͤfte
verſehen hat. Die Muſter der ſchoͤnen Kunſt ſind daher
die einzige Leitungsmittel dieſe auf die Nachkommen-
ſchaft zu bringen, welches durch bloße Beſchreibungen
nicht geſchehen koͤnnte (vornehmlich nicht im Fache der
redenden Kuͤnſte) und auch in dieſen koͤnnen nur die in
alten, todten und jetzt nur als gelehrte aufbehaltenen
Sprachen claſſiſch werden.
Ob zwar mechaniſche und ſchoͤne Kunſt, die erſte
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Kant, Immanuel: Critik der Urtheilskraft. Berlin u. a., 1790, S. 183. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kant_urtheilskraft_1790/247>, abgerufen am 04.12.2024.
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