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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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ten; auch einige, die fähig waren, in Gesellschaften
nach Einfällen zu reimen; allein im Augenblick solche
dichterische Jouwelen zu sehn, wie sie ausstreuete,
welche schnell einnahmen und der kältern Prüfung be-
standen, hatte man noch kein Beispiel. Und das kam
aus dem Kopfe eines Weibes, welches so schätzbare
Schönheiten keiner Erziehung, Anleitung, noch frem-
der Feile zu danken hatte! Ihre meisterhaften Stücke,
welche sie bei stiller Muße niederschrieb, kosteten ihr
kaum eine Stunde Arbeit; und dauerte es länger, so
wars durch Abschreiben und wieder Abschreiben; doch
wurden diejenigen Stücke niemals die besten, welche
sie oft abschreiben mußte, sondern ihr schnellster Ent-
wurf pflegte immer die schönsten und feuervollsten
Bilder zu haben; und bei allem Feuer hatten ihre
Bilder eine Wahrheit und Natur, daß, so erhaben
sie auch oft gestellt waren, sie doch immer deutlich
blieben. Gemeiniglich pflegten ihre damaligen Arbei-
ten das Herz zu rühren, indem sie den Verstand be-
zauberten. Ein Vorzug, welchen die erhabene Dicht-
kunst nur selten erreicht!

Nachdem ihre Tochter in Pension gekommen war,
rieth man ihr an, sich den Halberstädtern zu zeigen,
welche Verlangen hatten, sie kennen zu lernen. Sie
reisete also dahin, wo der Sänger, der (nach der
Dichterin eigenen Worten) in seiner Jugend Anakreon

war,

ten; auch einige, die faͤhig waren, in Geſellſchaften
nach Einfaͤllen zu reimen; allein im Augenblick ſolche
dichteriſche Jouwelen zu ſehn, wie ſie ausſtreuete,
welche ſchnell einnahmen und der kaͤltern Pruͤfung be-
ſtanden, hatte man noch kein Beiſpiel. Und das kam
aus dem Kopfe eines Weibes, welches ſo ſchaͤtzbare
Schoͤnheiten keiner Erziehung, Anleitung, noch frem-
der Feile zu danken hatte! Ihre meiſterhaften Stuͤcke,
welche ſie bei ſtiller Muße niederſchrieb, koſteten ihr
kaum eine Stunde Arbeit; und dauerte es laͤnger, ſo
wars durch Abſchreiben und wieder Abſchreiben; doch
wurden diejenigen Stuͤcke niemals die beſten, welche
ſie oft abſchreiben mußte, ſondern ihr ſchnellſter Ent-
wurf pflegte immer die ſchoͤnſten und feuervollſten
Bilder zu haben; und bei allem Feuer hatten ihre
Bilder eine Wahrheit und Natur, daß, ſo erhaben
ſie auch oft geſtellt waren, ſie doch immer deutlich
blieben. Gemeiniglich pflegten ihre damaligen Arbei-
ten das Herz zu ruͤhren, indem ſie den Verſtand be-
zauberten. Ein Vorzug, welchen die erhabene Dicht-
kunſt nur ſelten erreicht!

Nachdem ihre Tochter in Penſion gekommen war,
rieth man ihr an, ſich den Halberſtaͤdtern zu zeigen,
welche Verlangen hatten, ſie kennen zu lernen. Sie
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Dichterin eigenen Worten) in ſeiner Jugend Anakreon

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[96/0128] ten; auch einige, die faͤhig waren, in Geſellſchaften nach Einfaͤllen zu reimen; allein im Augenblick ſolche dichteriſche Jouwelen zu ſehn, wie ſie ausſtreuete, welche ſchnell einnahmen und der kaͤltern Pruͤfung be- ſtanden, hatte man noch kein Beiſpiel. Und das kam aus dem Kopfe eines Weibes, welches ſo ſchaͤtzbare Schoͤnheiten keiner Erziehung, Anleitung, noch frem- der Feile zu danken hatte! Ihre meiſterhaften Stuͤcke, welche ſie bei ſtiller Muße niederſchrieb, koſteten ihr kaum eine Stunde Arbeit; und dauerte es laͤnger, ſo wars durch Abſchreiben und wieder Abſchreiben; doch wurden diejenigen Stuͤcke niemals die beſten, welche ſie oft abſchreiben mußte, ſondern ihr ſchnellſter Ent- wurf pflegte immer die ſchoͤnſten und feuervollſten Bilder zu haben; und bei allem Feuer hatten ihre Bilder eine Wahrheit und Natur, daß, ſo erhaben ſie auch oft geſtellt waren, ſie doch immer deutlich blieben. Gemeiniglich pflegten ihre damaligen Arbei- ten das Herz zu ruͤhren, indem ſie den Verſtand be- zauberten. Ein Vorzug, welchen die erhabene Dicht- kunſt nur ſelten erreicht! Nachdem ihre Tochter in Penſion gekommen war, rieth man ihr an, ſich den Halberſtaͤdtern zu zeigen, welche Verlangen hatten, ſie kennen zu lernen. Sie reiſete alſo dahin, wo der Saͤnger, der (nach der Dichterin eigenen Worten) in ſeiner Jugend Anakreon war,

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 96. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/128>, abgerufen am 21.11.2024.