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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Mein fernweidender Damon! trägt in ihrer Zunge
Ein gleich wunderbares wohlklingendes Saytenspiel.

Sie öffnete die Lippen, und alles stand unter der Herr-
schaft
Ihrer Honigströhmenden Beredsamkeit. Nun wan-
delten
Sich die Klagen der unglückseligen Rinderhirtin
Zu einem Lobgesang. Einsmals, da schon das Angesicht
Der Nacht mit dunkelgrauem Schleyer verhangen war,
Und nur einige Sterne anzeigten ihre königliche Würde;
Da schlich die bescheidene Phillis zu der schwarz-
balkigten
Hütte ihrer armen Hirtin. Sie lauschte unter der
Niedrigen Hütte, und hörte singen, und vernahm
Bald darauf einen betenden Ton. Auf ihren
Abgemergelten Knieen lag das mühselige Weib,
Auf jeglicher Seite knieeten zween Kinder,
Und auf ihren beyden ausgestreckten Armen hielt sie
Den Säugling. "Höre mich! rief sie, du Erster,
Unsichtbarer,
All-Lebenschaffender! es sei, daß dich die Himmel Jupiter
Oder Apollo nennen, wie du auch heißest, ich fühle
Daß du bist; denn durch deinen unhörbaren Zuruf
Ward mir gebracht jene helfende Phillis; eine Göttin
Muß sie seyn, nachgebildet deiner Erbarmung. Ohne sie

Mein fernweidender Damon! traͤgt in ihrer Zunge
Ein gleich wunderbares wohlklingendes Saytenſpiel.

Sie oͤffnete die Lippen, und alles ſtand unter der Herr-
ſchaft
Ihrer Honigſtroͤhmenden Beredſamkeit. Nun wan-
delten
Sich die Klagen der ungluͤckſeligen Rinderhirtin
Zu einem Lobgeſang. Einsmals, da ſchon das Angeſicht
Der Nacht mit dunkelgrauem Schleyer verhangen war,
Und nur einige Sterne anzeigten ihre koͤnigliche Wuͤrde;
Da ſchlich die beſcheidene Phillis zu der ſchwarz-
balkigten
Huͤtte ihrer armen Hirtin. Sie lauſchte unter der
Niedrigen Huͤtte, und hoͤrte ſingen, und vernahm
Bald darauf einen betenden Ton. Auf ihren
Abgemergelten Knieen lag das muͤhſelige Weib,
Auf jeglicher Seite knieeten zween Kinder,
Und auf ihren beyden ausgeſtreckten Armen hielt ſie
Den Saͤugling. „Hoͤre mich! rief ſie, du Erſter,
Unſichtbarer,
All-Lebenſchaffender! es ſei, daß dich die Himmel Jupiter
Oder Apollo nennen, wie du auch heißeſt, ich fuͤhle
Daß du biſt; denn durch deinen unhoͤrbaren Zuruf
Ward mir gebracht jene helfende Phillis; eine Goͤttin
Muß ſie ſeyn, nachgebildet deiner Erbarmung. Ohne ſie
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[284/0444] Mein fernweidender Damon! traͤgt in ihrer Zunge Ein gleich wunderbares wohlklingendes Saytenſpiel. Sie oͤffnete die Lippen, und alles ſtand unter der Herr- ſchaft Ihrer Honigſtroͤhmenden Beredſamkeit. Nun wan- delten Sich die Klagen der ungluͤckſeligen Rinderhirtin Zu einem Lobgeſang. Einsmals, da ſchon das Angeſicht Der Nacht mit dunkelgrauem Schleyer verhangen war, Und nur einige Sterne anzeigten ihre koͤnigliche Wuͤrde; Da ſchlich die beſcheidene Phillis zu der ſchwarz- balkigten Huͤtte ihrer armen Hirtin. Sie lauſchte unter der Niedrigen Huͤtte, und hoͤrte ſingen, und vernahm Bald darauf einen betenden Ton. Auf ihren Abgemergelten Knieen lag das muͤhſelige Weib, Auf jeglicher Seite knieeten zween Kinder, Und auf ihren beyden ausgeſtreckten Armen hielt ſie Den Saͤugling. „Hoͤre mich! rief ſie, du Erſter, Unſichtbarer, All-Lebenſchaffender! es ſei, daß dich die Himmel Jupiter Oder Apollo nennen, wie du auch heißeſt, ich fuͤhle Daß du biſt; denn durch deinen unhoͤrbaren Zuruf Ward mir gebracht jene helfende Phillis; eine Goͤttin Muß ſie ſeyn, nachgebildet deiner Erbarmung. Ohne ſie

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/444>, abgerufen am 22.11.2024.