Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

Bild:
<< vorherige Seite

sie glücklicher in ihrem Hause, als bey dem Hirten
war, denn sie fand auf ihrem Söller (Vorfluhr) ei-
nige Blätter voll Verse von dem bekannten Johann
Franke
, welche über allerlei Gegenstände geschrie-
ben waren. Dieser neue Fund schlug einen Funken in
ihr an, welcher in seiner Neuheit etwas Bezaubern-
des für sie hatte. Noch niemals waren ihr andere
Poesien als die Lieder im Gesangbuche vor Augen ge-
kommen; aus diesen Blättern sahe sie, daß man auch
andere Gedanken als geistliche in Verse bringen konn-
te; der Takt des Sylbenmaßes war unaussprechlich
schmeichelhaft für ihr Gefühl; sie empfand, daß die
Sprache in Versen einen vorzüglichen Unterschied vor
der gemeinen Sprache hatte -- Sie flog zu ihrem
Hirten, entdeckte ihm den Schatz, den sie gefunden
hatte, und brannte nun von keiner geringern Begier-
de, als von der: auch Verse machen zu können. Die-
ses wünschen und auch versuchen, war eins, und von
Stund an keimte ihr Dichtertalent aus dem Verbor-
genen hervor. Sie schrieb Verse an den Hirten von
der Art, wie sie im Anhange dieser Sammlung zur
Probe mitgetheilt sind, und ahndete nicht, daß sie
damit etwas Edleres that, als wenn sie vormals hin-
ter ihrer kleinen Heerde mit dem Stäbchen in der Hand
herging. Auch wurde sie nicht stolzer auf ihr Talent,
als es schon ihren Namen berühmt gemacht hatte.


c 2

ſie gluͤcklicher in ihrem Hauſe, als bey dem Hirten
war, denn ſie fand auf ihrem Soͤller (Vorfluhr) ei-
nige Blaͤtter voll Verſe von dem bekannten Johann
Franke
, welche uͤber allerlei Gegenſtaͤnde geſchrie-
ben waren. Dieſer neue Fund ſchlug einen Funken in
ihr an, welcher in ſeiner Neuheit etwas Bezaubern-
des fuͤr ſie hatte. Noch niemals waren ihr andere
Poeſien als die Lieder im Geſangbuche vor Augen ge-
kommen; aus dieſen Blaͤttern ſahe ſie, daß man auch
andere Gedanken als geiſtliche in Verſe bringen konn-
te; der Takt des Sylbenmaßes war unausſprechlich
ſchmeichelhaft fuͤr ihr Gefuͤhl; ſie empfand, daß die
Sprache in Verſen einen vorzuͤglichen Unterſchied vor
der gemeinen Sprache hatte — Sie flog zu ihrem
Hirten, entdeckte ihm den Schatz, den ſie gefunden
hatte, und brannte nun von keiner geringern Begier-
de, als von der: auch Verſe machen zu koͤnnen. Die-
ſes wuͤnſchen und auch verſuchen, war eins, und von
Stund an keimte ihr Dichtertalent aus dem Verbor-
genen hervor. Sie ſchrieb Verſe an den Hirten von
der Art, wie ſie im Anhange dieſer Sammlung zur
Probe mitgetheilt ſind, und ahndete nicht, daß ſie
damit etwas Edleres that, als wenn ſie vormals hin-
ter ihrer kleinen Heerde mit dem Staͤbchen in der Hand
herging. Auch wurde ſie nicht ſtolzer auf ihr Talent,
als es ſchon ihren Namen beruͤhmt gemacht hatte.


c 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0067" n="35"/>
&#x017F;ie glu&#x0364;cklicher in ihrem Hau&#x017F;e, als bey dem Hirten<lb/>
war, denn &#x017F;ie fand auf ihrem So&#x0364;ller (Vorfluhr) ei-<lb/>
nige Bla&#x0364;tter voll Ver&#x017F;e von dem bekannten <hi rendition="#g">Johann<lb/>
Franke</hi>, welche u&#x0364;ber allerlei Gegen&#x017F;ta&#x0364;nde ge&#x017F;chrie-<lb/>
ben waren. Die&#x017F;er neue Fund &#x017F;chlug einen Funken in<lb/>
ihr an, welcher in &#x017F;einer Neuheit etwas Bezaubern-<lb/>
des fu&#x0364;r &#x017F;ie hatte. Noch niemals waren ihr andere<lb/>
Poe&#x017F;ien als die Lieder im Ge&#x017F;angbuche vor Augen ge-<lb/>
kommen; aus die&#x017F;en Bla&#x0364;ttern &#x017F;ahe &#x017F;ie, daß man auch<lb/>
andere Gedanken als gei&#x017F;tliche in Ver&#x017F;e bringen konn-<lb/>
te; der Takt des Sylbenmaßes war unaus&#x017F;prechlich<lb/>
&#x017F;chmeichelhaft fu&#x0364;r ihr Gefu&#x0364;hl; &#x017F;ie empfand, daß die<lb/>
Sprache in Ver&#x017F;en einen vorzu&#x0364;glichen Unter&#x017F;chied vor<lb/>
der gemeinen Sprache hatte &#x2014; Sie flog zu ihrem<lb/>
Hirten, entdeckte ihm den Schatz, den &#x017F;ie gefunden<lb/>
hatte, und brannte nun von keiner geringern Begier-<lb/>
de, als von der: auch Ver&#x017F;e machen zu ko&#x0364;nnen. Die-<lb/>
&#x017F;es wu&#x0364;n&#x017F;chen und auch ver&#x017F;uchen, war eins, und von<lb/>
Stund an keimte ihr Dichtertalent aus dem Verbor-<lb/>
genen hervor. Sie &#x017F;chrieb Ver&#x017F;e an den Hirten von<lb/>
der Art, wie &#x017F;ie im Anhange die&#x017F;er Sammlung zur<lb/>
Probe mitgetheilt &#x017F;ind, und ahndete nicht, daß &#x017F;ie<lb/>
damit etwas Edleres that, als wenn &#x017F;ie vormals hin-<lb/>
ter ihrer kleinen Heerde mit dem Sta&#x0364;bchen in der Hand<lb/>
herging. Auch wurde &#x017F;ie nicht &#x017F;tolzer auf ihr Talent,<lb/>
als es &#x017F;chon ihren Namen beru&#x0364;hmt gemacht hatte.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="sig">c 2</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[35/0067] ſie gluͤcklicher in ihrem Hauſe, als bey dem Hirten war, denn ſie fand auf ihrem Soͤller (Vorfluhr) ei- nige Blaͤtter voll Verſe von dem bekannten Johann Franke, welche uͤber allerlei Gegenſtaͤnde geſchrie- ben waren. Dieſer neue Fund ſchlug einen Funken in ihr an, welcher in ſeiner Neuheit etwas Bezaubern- des fuͤr ſie hatte. Noch niemals waren ihr andere Poeſien als die Lieder im Geſangbuche vor Augen ge- kommen; aus dieſen Blaͤttern ſahe ſie, daß man auch andere Gedanken als geiſtliche in Verſe bringen konn- te; der Takt des Sylbenmaßes war unausſprechlich ſchmeichelhaft fuͤr ihr Gefuͤhl; ſie empfand, daß die Sprache in Verſen einen vorzuͤglichen Unterſchied vor der gemeinen Sprache hatte — Sie flog zu ihrem Hirten, entdeckte ihm den Schatz, den ſie gefunden hatte, und brannte nun von keiner geringern Begier- de, als von der: auch Verſe machen zu koͤnnen. Die- ſes wuͤnſchen und auch verſuchen, war eins, und von Stund an keimte ihr Dichtertalent aus dem Verbor- genen hervor. Sie ſchrieb Verſe an den Hirten von der Art, wie ſie im Anhange dieſer Sammlung zur Probe mitgetheilt ſind, und ahndete nicht, daß ſie damit etwas Edleres that, als wenn ſie vormals hin- ter ihrer kleinen Heerde mit dem Staͤbchen in der Hand herging. Auch wurde ſie nicht ſtolzer auf ihr Talent, als es ſchon ihren Namen beruͤhmt gemacht hatte. c 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/67
Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 35. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/67>, abgerufen am 21.11.2024.