Der ehrgeizige Rinderphilosoph blieb ihr nichts schuldig, er versuchte, ihr in Reimen wieder zu ant- worten, ob ihm gleich das Steigen in die Dichtersphäre herzlich sauer wurde, weil er nicht wie seine Freundin zur Dichtkunst geboren war.
Jezt aber war sie nicht mehr das kinderhafte Mäd- chen auf der Weide, sondern eine werdende Jungfrau im sechzehnten Jahre, welcher in jeder Nerve Empfin- dung glühete. Zwar konnte der arme Rinderhirt mit seinen zusammengedrängten Unannehmlichkeiten ihr keine zärtlichen Wünsche ablocken; die Ritterideale aus seinen Büchern hatten ihre Phantasie erhöht, ihren Geschmack verfeinert, und ihr Auge ekelnd gemacht; sie lernte aber einen Nachbarssohn kennen, einen wohl- gewachsenen und wohlgebildeten jungen Menschen, welcher ganz artige Manieren hatte, und sogar Verse zu lieben schien. Für diesen wurde sie eingenommen, und vielleicht würde sie mit ihm einen ziemlich leidlichen Ehestand geführt haben, wenn sie zu einer Heirath mit ihm seiner Mutter Bewilligung hätte erlangen können. Allein dieser Frau war das Mädchen darum aufs äußerste zuwider, weil sie -- lesen und schreiben konnte, und weil sie damals, vermöge ihres in ihr wirkenden Dichterfeuers selten mit den Augen gerade sah, sondern beinahe schielte. Sie eiferte heftig wider jede Zusammenkunft mit ihrem Sohne, und kränkte
Der ehrgeizige Rinderphiloſoph blieb ihr nichts ſchuldig, er verſuchte, ihr in Reimen wieder zu ant- worten, ob ihm gleich das Steigen in die Dichterſphaͤre herzlich ſauer wurde, weil er nicht wie ſeine Freundin zur Dichtkunſt geboren war.
Jezt aber war ſie nicht mehr das kinderhafte Maͤd- chen auf der Weide, ſondern eine werdende Jungfrau im ſechzehnten Jahre, welcher in jeder Nerve Empfin- dung gluͤhete. Zwar konnte der arme Rinderhirt mit ſeinen zuſammengedraͤngten Unannehmlichkeiten ihr keine zaͤrtlichen Wuͤnſche ablocken; die Ritterideale aus ſeinen Buͤchern hatten ihre Phantaſie erhoͤht, ihren Geſchmack verfeinert, und ihr Auge ekelnd gemacht; ſie lernte aber einen Nachbarsſohn kennen, einen wohl- gewachſenen und wohlgebildeten jungen Menſchen, welcher ganz artige Manieren hatte, und ſogar Verſe zu lieben ſchien. Fuͤr dieſen wurde ſie eingenommen, und vielleicht wuͤrde ſie mit ihm einen ziemlich leidlichen Eheſtand gefuͤhrt haben, wenn ſie zu einer Heirath mit ihm ſeiner Mutter Bewilligung haͤtte erlangen koͤnnen. Allein dieſer Frau war das Maͤdchen darum aufs aͤußerſte zuwider, weil ſie — leſen und ſchreiben konnte, und weil ſie damals, vermoͤge ihres in ihr wirkenden Dichterfeuers ſelten mit den Augen gerade ſah, ſondern beinahe ſchielte. Sie eiferte heftig wider jede Zuſammenkunft mit ihrem Sohne, und kraͤnkte
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Der ehrgeizige Rinderphiloſoph blieb ihr nichts
ſchuldig, er verſuchte, ihr in Reimen wieder zu ant-
worten, ob ihm gleich das Steigen in die Dichterſphaͤre
herzlich ſauer wurde, weil er nicht wie ſeine Freundin
zur Dichtkunſt geboren war.
Jezt aber war ſie nicht mehr das kinderhafte Maͤd-
chen auf der Weide, ſondern eine werdende Jungfrau
im ſechzehnten Jahre, welcher in jeder Nerve Empfin-
dung gluͤhete. Zwar konnte der arme Rinderhirt mit
ſeinen zuſammengedraͤngten Unannehmlichkeiten ihr
keine zaͤrtlichen Wuͤnſche ablocken; die Ritterideale aus
ſeinen Buͤchern hatten ihre Phantaſie erhoͤht, ihren
Geſchmack verfeinert, und ihr Auge ekelnd gemacht;
ſie lernte aber einen Nachbarsſohn kennen, einen wohl-
gewachſenen und wohlgebildeten jungen Menſchen,
welcher ganz artige Manieren hatte, und ſogar Verſe
zu lieben ſchien. Fuͤr dieſen wurde ſie eingenommen,
und vielleicht wuͤrde ſie mit ihm einen ziemlich leidlichen
Eheſtand gefuͤhrt haben, wenn ſie zu einer Heirath
mit ihm ſeiner Mutter Bewilligung haͤtte erlangen
koͤnnen. Allein dieſer Frau war das Maͤdchen darum
aufs aͤußerſte zuwider, weil ſie — leſen und ſchreiben
konnte, und weil ſie damals, vermoͤge ihres in ihr
wirkenden Dichterfeuers ſelten mit den Augen gerade
ſah, ſondern beinahe ſchielte. Sie eiferte heftig wider
jede Zuſammenkunft mit ihrem Sohne, und kraͤnkte
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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/68>, abgerufen am 21.11.2024.
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