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Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792.

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Söhnchens zu befriedigen. Sie erzählte öfters, daß
sie eines Tages, als sie ihre Tochter an der Brust hat-
te, vor Kummer zur Nachbarin herüber gegangen sey;
sie fand die Leute eben beim Mittagsessen, welches vor
ihnen in einer großen Schüssel voll gebackenen Obst
mit Klößen und geräuchertem Fleische rauchte. Sie
grüßte die Nachbarn, welche ihr dankten und sie stehn
ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward
durch den Reiz der vollen Schüssel aufs äußerste em-
pört; aber sie bekam nichts, und mit Thränen des
Mangels und der Beschämung ging sie wieder an ih-
ren leeren Heerd zurück.

Mit ihren Kleidern war es eben so beschaffen, wie
mit ihrer Küche; sie hatte kaum sich nothdürftig zu
bedecken, und ging deswegen nur immer in den Früh-
predigten in die Kirche, wo sie sich hinter einen Pfei-
ler stellte, weil sie sich vor den Leuten ihrer Armuth
schämte. Dennoch war sie glücklich, wenn sie bei Frost
und Mangel nur den Prediger hören konnte. Voll
von seiner sanften Rede kam sie dann nach Hause, und
setzte dasjenige, was sie aus seiner Predigt behalten
hatte, in Verse. Dies that sie lange für sich selbst,
aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals
kam sie auf den Gedanken, eine solche versificirte Pre-
digt dem Pastor zu übergeben, aber auf welche Weise?
Sie, welche sich vor andern Leuten wegen ihres arm-

e

Soͤhnchens zu befriedigen. Sie erzaͤhlte oͤfters, daß
ſie eines Tages, als ſie ihre Tochter an der Bruſt hat-
te, vor Kummer zur Nachbarin heruͤber gegangen ſey;
ſie fand die Leute eben beim Mittagseſſen, welches vor
ihnen in einer großen Schuͤſſel voll gebackenen Obſt
mit Kloͤßen und geraͤuchertem Fleiſche rauchte. Sie
gruͤßte die Nachbarn, welche ihr dankten und ſie ſtehn
ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward
durch den Reiz der vollen Schuͤſſel aufs aͤußerſte em-
poͤrt; aber ſie bekam nichts, und mit Thraͤnen des
Mangels und der Beſchaͤmung ging ſie wieder an ih-
ren leeren Heerd zuruͤck.

Mit ihren Kleidern war es eben ſo beſchaffen, wie
mit ihrer Kuͤche; ſie hatte kaum ſich nothduͤrftig zu
bedecken, und ging deswegen nur immer in den Fruͤh-
predigten in die Kirche, wo ſie ſich hinter einen Pfei-
ler ſtellte, weil ſie ſich vor den Leuten ihrer Armuth
ſchaͤmte. Dennoch war ſie gluͤcklich, wenn ſie bei Froſt
und Mangel nur den Prediger hoͤren konnte. Voll
von ſeiner ſanften Rede kam ſie dann nach Hauſe, und
ſetzte dasjenige, was ſie aus ſeiner Predigt behalten
hatte, in Verſe. Dies that ſie lange fuͤr ſich ſelbſt,
aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals
kam ſie auf den Gedanken, eine ſolche verſificirte Pre-
digt dem Paſtor zu uͤbergeben, aber auf welche Weiſe?
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e
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[65/0097] Soͤhnchens zu befriedigen. Sie erzaͤhlte oͤfters, daß ſie eines Tages, als ſie ihre Tochter an der Bruſt hat- te, vor Kummer zur Nachbarin heruͤber gegangen ſey; ſie fand die Leute eben beim Mittagseſſen, welches vor ihnen in einer großen Schuͤſſel voll gebackenen Obſt mit Kloͤßen und geraͤuchertem Fleiſche rauchte. Sie gruͤßte die Nachbarn, welche ihr dankten und ſie ſtehn ließen, ohne ihr etwas anzubieten. Ihr Hunger ward durch den Reiz der vollen Schuͤſſel aufs aͤußerſte em- poͤrt; aber ſie bekam nichts, und mit Thraͤnen des Mangels und der Beſchaͤmung ging ſie wieder an ih- ren leeren Heerd zuruͤck. Mit ihren Kleidern war es eben ſo beſchaffen, wie mit ihrer Kuͤche; ſie hatte kaum ſich nothduͤrftig zu bedecken, und ging deswegen nur immer in den Fruͤh- predigten in die Kirche, wo ſie ſich hinter einen Pfei- ler ſtellte, weil ſie ſich vor den Leuten ihrer Armuth ſchaͤmte. Dennoch war ſie gluͤcklich, wenn ſie bei Froſt und Mangel nur den Prediger hoͤren konnte. Voll von ſeiner ſanften Rede kam ſie dann nach Hauſe, und ſetzte dasjenige, was ſie aus ſeiner Predigt behalten hatte, in Verſe. Dies that ſie lange fuͤr ſich ſelbſt, aus bloßem Drang zum Schreiben; allein einsmals kam ſie auf den Gedanken, eine ſolche verſificirte Pre- digt dem Paſtor zu uͤbergeben, aber auf welche Weiſe? Sie, welche ſich vor andern Leuten wegen ihres arm- e

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Zitationshilfe: Karsch, Anna Luise: Gedichte. Berlin, 1792, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/karsch_gedichte_1792/97>, abgerufen am 24.11.2024.