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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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schon gelesen und glaubte mich im Besitze beson¬
derer Quellen. Mein Aufsatz war eine prosaische
Wiedererzählung des Gedichtes und besonders die
Liebesgeschichte weitläufig ausgemalt. Als der
Lehrer mit den durchgesehenen Heften in die
Stunde und die Reihe des Beurtheilens an mich
kam, fragte er mich freundlich, wo ich diese und
jene Umstände hergenommen hätte. Ich fürchtete
Unrecht gethan zu haben und schwieg auf sein
wiederholtes Andringen hartnäckig still. Beim
Nachhausegehen forderte er mich auf, nächstens
zu ihm in sein Haus zu kommen. Ich war ihm
sehr zugethan und ahnte wohl, daß mir Gutes
geschehen sollte; aber ich war zu schüchtern und
ging nicht hin. Der Mann starb und ein An¬
derer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus
dem Leben griff und uns anwies, die verschiedenen
Vorkommnisse desselben zu beschreiben. So mußten
wir einmal unsere Ferienreise aufzeichnen; ich
hatte keine gemacht, sondern die ganze Zeit über
bei der Mutter hinter dem Ofen gesessen, erfand
aber ein ganzes Heft voll muthwilliger Aben¬
teuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend

ſchon geleſen und glaubte mich im Beſitze beſon¬
derer Quellen. Mein Aufſatz war eine proſaiſche
Wiedererzaͤhlung des Gedichtes und beſonders die
Liebesgeſchichte weitlaͤufig ausgemalt. Als der
Lehrer mit den durchgeſehenen Heften in die
Stunde und die Reihe des Beurtheilens an mich
kam, fragte er mich freundlich, wo ich dieſe und
jene Umſtaͤnde hergenommen haͤtte. Ich fuͤrchtete
Unrecht gethan zu haben und ſchwieg auf ſein
wiederholtes Andringen hartnaͤckig ſtill. Beim
Nachhauſegehen forderte er mich auf, naͤchſtens
zu ihm in ſein Haus zu kommen. Ich war ihm
ſehr zugethan und ahnte wohl, daß mir Gutes
geſchehen ſollte; aber ich war zu ſchuͤchtern und
ging nicht hin. Der Mann ſtarb und ein An¬
derer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus
dem Leben griff und uns anwies, die verſchiedenen
Vorkommniſſe deſſelben zu beſchreiben. So mußten
wir einmal unſere Ferienreiſe aufzeichnen; ich
hatte keine gemacht, ſondern die ganze Zeit uͤber
bei der Mutter hinter dem Ofen geſeſſen, erfand
aber ein ganzes Heft voll muthwilliger Aben¬
teuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend

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[358/0372] ſchon geleſen und glaubte mich im Beſitze beſon¬ derer Quellen. Mein Aufſatz war eine proſaiſche Wiedererzaͤhlung des Gedichtes und beſonders die Liebesgeſchichte weitlaͤufig ausgemalt. Als der Lehrer mit den durchgeſehenen Heften in die Stunde und die Reihe des Beurtheilens an mich kam, fragte er mich freundlich, wo ich dieſe und jene Umſtaͤnde hergenommen haͤtte. Ich fuͤrchtete Unrecht gethan zu haben und ſchwieg auf ſein wiederholtes Andringen hartnaͤckig ſtill. Beim Nachhauſegehen forderte er mich auf, naͤchſtens zu ihm in ſein Haus zu kommen. Ich war ihm ſehr zugethan und ahnte wohl, daß mir Gutes geſchehen ſollte; aber ich war zu ſchuͤchtern und ging nicht hin. Der Mann ſtarb und ein An¬ derer folgte auf ihn, welcher die Aufgaben aus dem Leben griff und uns anwies, die verſchiedenen Vorkommniſſe deſſelben zu beſchreiben. So mußten wir einmal unſere Ferienreiſe aufzeichnen; ich hatte keine gemacht, ſondern die ganze Zeit uͤber bei der Mutter hinter dem Ofen geſeſſen, erfand aber ein ganzes Heft voll muthwilliger Aben¬ teuer, welche in dem witzelnden Jargon irgend

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 358. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/372>, abgerufen am 22.11.2024.