dann aber kummervoll am Tische vor dem Unge¬ nossenen dasitzen. Er sah sie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, fast ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hin¬ einblicken, ohne zu lesen; endlich ergriff sie die stille Lampe und ging langsam nach dem Alkoven, hinter dessen schneeweißen Vorhängen Heinrichs Wiege gestanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor sein Gesicht drücken, es war ihm, als ob er schon Jahre lang und tau¬ send Stunden weit in der Ferne gelebt hätte und es befiel ihm eine plötzliche Angst, daß er die Stube nie mehr betreten dürfe.
Er konnte sich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine hübsche runde Zahl Geschwister nebst übriger Verwandtschaft in sich vereinigen, wo, wenn ja Eines aus ihrem Schooße scheidet, ein Andres dafür zurückkehrt und über jedes außerordentliche Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten wird, und selbst bei einem Todesfalle vertheilt sich der Schmerz in kleinere Lasten auf die zahl¬ reichen Häupter, so daß oft wenige Wochen hin¬
dann aber kummervoll am Tiſche vor dem Unge¬ noſſenen daſitzen. Er ſah ſie darauf einen Band eines großen Andachtswerkes, faſt ihre ganze Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hin¬ einblicken, ohne zu leſen; endlich ergriff ſie die ſtille Lampe und ging langſam nach dem Alkoven, hinter deſſen ſchneeweißen Vorhaͤngen Heinrichs Wiege geſtanden hatte. Hier mußte er den Mantel ein wenig vor ſein Geſicht druͤcken, es war ihm, als ob er ſchon Jahre lang und tau¬ ſend Stunden weit in der Ferne gelebt haͤtte und es befiel ihm eine ploͤtzliche Angſt, daß er die Stube nie mehr betreten duͤrfe.
Er konnte ſich nicht enthalten, jene Familien bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und eine huͤbſche runde Zahl Geſchwiſter nebſt uͤbriger Verwandtſchaft in ſich vereinigen, wo, wenn ja Eines aus ihrem Schooße ſcheidet, ein Andres dafuͤr zuruͤckkehrt und uͤber jedes außerordentliche Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten wird, und ſelbſt bei einem Todesfalle vertheilt ſich der Schmerz in kleinere Laſten auf die zahl¬ reichen Haͤupter, ſo daß oft wenige Wochen hin¬
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dann aber kummervoll am Tiſche vor dem Unge¬
noſſenen daſitzen. Er ſah ſie darauf einen Band
eines großen Andachtswerkes, faſt ihre ganze
Bibliothek, nehmen und eine geraume Zeit hin¬
einblicken, ohne zu leſen; endlich ergriff ſie die
ſtille Lampe und ging langſam nach dem Alkoven,
hinter deſſen ſchneeweißen Vorhaͤngen Heinrichs
Wiege geſtanden hatte. Hier mußte er den
Mantel ein wenig vor ſein Geſicht druͤcken, es
war ihm, als ob er ſchon Jahre lang und tau¬
ſend Stunden weit in der Ferne gelebt haͤtte und
es befiel ihm eine ploͤtzliche Angſt, daß er die
Stube nie mehr betreten duͤrfe.
Er konnte ſich nicht enthalten, jene Familien
bitterlich zu beneiden, welche Vater, Mutter und
eine huͤbſche runde Zahl Geſchwiſter nebſt uͤbriger
Verwandtſchaft in ſich vereinigen, wo, wenn ja
Eines aus ihrem Schooße ſcheidet, ein Andres
dafuͤr zuruͤckkehrt und uͤber jedes außerordentliche
Ereigniß ein behaglicher Familienrath abgehalten
wird, und ſelbſt bei einem Todesfalle vertheilt
ſich der Schmerz in kleinere Laſten auf die zahl¬
reichen Haͤupter, ſo daß oft wenige Wochen hin¬
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/61>, abgerufen am 21.11.2024.
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