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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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reichen, denselben in ein fast angenehm-weh¬
müthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verschie¬
den dagegen war seine eigne Lage! Das ganze
Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden
die auseinander gerissen, so kannte jede die Ein¬
samkeit der anderen und der Trennungsschmerz
wurde so verdoppelt.

"Haben wohl", dachte er, "jene Propheten
nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der
Familie vernichten wollen? Wie kühl, wie ruhig
könnten nun meine Mutter und ich sein, wenn
das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn
nach jeder Trennung man sich gesichert in den
Schooß der Gesammtheit zurückflüchten könnte,
wohl wissend, daß der andere Theil auch darin
seine Wurzeln hat, welche nie durchschnitten wer¬
den können, und wenn endlich dem zufolge die
verwandtschaftlichen Leiden beseitigt würden!"

Im Mittelalter wurde der Tod als ein
menschliches Skelett abgebildet und es hat sich
daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt;
sogar leblose Gegenstände, wie Meerschiffe, wur¬
den skeletisirt und mußten auf dem Meere als

reichen, denſelben in ein faſt angenehm-weh¬
muͤthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verſchie¬
den dagegen war ſeine eigne Lage! Das ganze
Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden
die auseinander geriſſen, ſo kannte jede die Ein¬
ſamkeit der anderen und der Trennungsſchmerz
wurde ſo verdoppelt.

»Haben wohl«, dachte er, »jene Propheten
nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der
Familie vernichten wollen? Wie kuͤhl, wie ruhig
koͤnnten nun meine Mutter und ich ſein, wenn
das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn
nach jeder Trennung man ſich geſichert in den
Schooß der Geſammtheit zuruͤckfluͤchten koͤnnte,
wohl wiſſend, daß der andere Theil auch darin
ſeine Wurzeln hat, welche nie durchſchnitten wer¬
den koͤnnen, und wenn endlich dem zufolge die
verwandtſchaftlichen Leiden beſeitigt wuͤrden!«

Im Mittelalter wurde der Tod als ein
menſchliches Skelett abgebildet und es hat ſich
daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt;
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[48/0062] reichen, denſelben in ein faſt angenehm-weh¬ muͤthiges Erinnern zu verwandeln. Wie verſchie¬ den dagegen war ſeine eigne Lage! Das ganze Gewicht ruhte auf zwei einzigen Seelen; wurden die auseinander geriſſen, ſo kannte jede die Ein¬ ſamkeit der anderen und der Trennungsſchmerz wurde ſo verdoppelt. »Haben wohl«, dachte er, »jene Propheten nicht Unrecht, welche die jetzige Bedeutung der Familie vernichten wollen? Wie kuͤhl, wie ruhig koͤnnten nun meine Mutter und ich ſein, wenn das Einzelleben mehr im Ganzen aufgehen, wenn nach jeder Trennung man ſich geſichert in den Schooß der Geſammtheit zuruͤckfluͤchten koͤnnte, wohl wiſſend, daß der andere Theil auch darin ſeine Wurzeln hat, welche nie durchſchnitten wer¬ den koͤnnen, und wenn endlich dem zufolge die verwandtſchaftlichen Leiden beſeitigt wuͤrden!« Im Mittelalter wurde der Tod als ein menſchliches Skelett abgebildet und es hat ſich daraus eine ganze Knochenromantik entwickelt; ſogar lebloſe Gegenſtaͤnde, wie Meerſchiffe, wur¬ den ſkeletiſirt und mußten auf dem Meere als

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/62>, abgerufen am 21.11.2024.