Todtenschiff spuken. Denkt man sich solcher Weise das fliegende Gerippe einer Krähe, so war es der Schatten derselben, welchem der Gedanke glich, der so eben über Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne schien reichlich durch das dürre Gitter der Knöchlein und Gebeine.
"Nein," rief ihm sein innerstes Gefühl zu, "der Zustand, den sich diese Menschen wünschen, gleicht zu sehr der stabilen gedankenlosen Seligkeit, welche das höchste Ziel der meisten Christen ist. Man muß wohl unterscheiden zwischen Leiden und Leiden; das Eine ist zu dulden, ja zu ehren, während das Andere unzulässig ist!"
"Der beste Maßstab," dachte er weiter, "ist vielleicht der ästhetische. Alle Leiden lassen sich in schöne und unschöne eintheilen, in sittliche und unsittliche, unsittlich für die, welche sie ansehen und in ihrer Nähe dulden. Eine Waise, die auf einem Grabhügel in Thränen zerfließt, ist schön und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohlthuend sein; aber ein Kind, welches verkom¬ men und hungerig im Staube liegt, ist eine Schande für die ganze Landschaft, und für es
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Todtenſchiff ſpuken. Denkt man ſich ſolcher Weiſe das fliegende Gerippe einer Kraͤhe, ſo war es der Schatten derſelben, welchem der Gedanke glich, der ſo eben uͤber Heinrichs Seele lief. Die warme Sonne ſchien reichlich durch das duͤrre Gitter der Knoͤchlein und Gebeine.
»Nein,« rief ihm ſein innerſtes Gefuͤhl zu, »der Zuſtand, den ſich dieſe Menſchen wuͤnſchen, gleicht zu ſehr der ſtabilen gedankenloſen Seligkeit, welche das hoͤchſte Ziel der meiſten Chriſten iſt. Man muß wohl unterſcheiden zwiſchen Leiden und Leiden; das Eine iſt zu dulden, ja zu ehren, waͤhrend das Andere unzulaͤſſig iſt!«
»Der beſte Maßſtab,« dachte er weiter, »iſt vielleicht der aͤſthetiſche. Alle Leiden laſſen ſich in ſchoͤne und unſchoͤne eintheilen, in ſittliche und unſittliche, unſittlich fuͤr die, welche ſie anſehen und in ihrer Naͤhe dulden. Eine Waiſe, die auf einem Grabhuͤgel in Thraͤnen zerfließt, iſt ſchoͤn und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben wohlthuend ſein; aber ein Kind, welches verkom¬ men und hungerig im Staube liegt, iſt eine Schande fuͤr die ganze Landſchaft, und fuͤr es
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Todtenſchiff ſpuken. Denkt man ſich ſolcher
Weiſe das fliegende Gerippe einer Kraͤhe, ſo war
es der Schatten derſelben, welchem der Gedanke
glich, der ſo eben uͤber Heinrichs Seele lief.
Die warme Sonne ſchien reichlich durch das
duͤrre Gitter der Knoͤchlein und Gebeine.
»Nein,« rief ihm ſein innerſtes Gefuͤhl zu, »der
Zuſtand, den ſich dieſe Menſchen wuͤnſchen, gleicht
zu ſehr der ſtabilen gedankenloſen Seligkeit,
welche das hoͤchſte Ziel der meiſten Chriſten iſt.
Man muß wohl unterſcheiden zwiſchen Leiden
und Leiden; das Eine iſt zu dulden, ja zu ehren,
waͤhrend das Andere unzulaͤſſig iſt!«
»Der beſte Maßſtab,« dachte er weiter, »iſt
vielleicht der aͤſthetiſche. Alle Leiden laſſen ſich in
ſchoͤne und unſchoͤne eintheilen, in ſittliche und
unſittliche, unſittlich fuͤr die, welche ſie anſehen
und in ihrer Naͤhe dulden. Eine Waiſe, die auf
einem Grabhuͤgel in Thraͤnen zerfließt, iſt ſchoͤn
und ihr Schmerz wird ihr durch das ganze Leben
wohlthuend ſein; aber ein Kind, welches verkom¬
men und hungerig im Staube liegt, iſt eine
Schande fuͤr die ganze Landſchaft, und fuͤr es
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/63>, abgerufen am 21.11.2024.
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