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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854.

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selbst erwächst nicht die mindeste ersprießliche Re¬
gung aus diesem Zustande; eine greise Mutter,
welche ihre Kinder und Enkel dahin sterben sieht,
wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebens¬
abend ist für sie und andere feierlicher; aber eine
alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den
Tagelohn arbeitet, eine Bürde auf dem gebeug¬
ten Rücken, ist ein peinlicher Anblick und gereicht
ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der
Jüngling, der mit mächtigen Leidenschaften ringt
und seine Grundsätze dem Leben Schritt für
Schritt abstreitet, ist, so unglücklich er sich oft
fühlt, bei alledem wohl daran, während uns der
Bauernknecht in den Augen weh thut, der ver¬
achtet und vergessen, unwissend und trotzig vor
seiner Stallthüre liegt und nach nichts verlangt,
als nach seinem Vesperbrot. Jener Jüngling
gewinnt in jedem Sturme und seine Energie er¬
freut den Zuschauer, dieser unglückliche Faulpelz
aber wird durch das langweilige Tröpfeln seiner
naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz,
man soll nur dasjenige Unglück dulden, was sei¬
nem Träger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles

ſelbſt erwaͤchſt nicht die mindeſte erſprießliche Re¬
gung aus dieſem Zuſtande; eine greiſe Mutter,
welche ihre Kinder und Enkel dahin ſterben ſieht,
wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebens¬
abend iſt fuͤr ſie und andere feierlicher; aber eine
alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den
Tagelohn arbeitet, eine Buͤrde auf dem gebeug¬
ten Ruͤcken, iſt ein peinlicher Anblick und gereicht
ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der
Juͤngling, der mit maͤchtigen Leidenſchaften ringt
und ſeine Grundſaͤtze dem Leben Schritt fuͤr
Schritt abſtreitet, iſt, ſo ungluͤcklich er ſich oft
fuͤhlt, bei alledem wohl daran, waͤhrend uns der
Bauernknecht in den Augen weh thut, der ver¬
achtet und vergeſſen, unwiſſend und trotzig vor
ſeiner Stallthuͤre liegt und nach nichts verlangt,
als nach ſeinem Vesperbrot. Jener Juͤngling
gewinnt in jedem Sturme und ſeine Energie er¬
freut den Zuſchauer, dieſer ungluͤckliche Faulpelz
aber wird durch das langweilige Troͤpfeln ſeiner
naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz,
man ſoll nur dasjenige Ungluͤck dulden, was ſei¬
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[50/0064] ſelbſt erwaͤchſt nicht die mindeſte erſprießliche Re¬ gung aus dieſem Zuſtande; eine greiſe Mutter, welche ihre Kinder und Enkel dahin ſterben ſieht, wird geheiligt durch ihr Weh, und ihr Lebens¬ abend iſt fuͤr ſie und andere feierlicher; aber eine alte gebrechliche Frau, welche zitternd um den Tagelohn arbeitet, eine Buͤrde auf dem gebeug¬ ten Ruͤcken, iſt ein peinlicher Anblick und gereicht ihrer Gemeinde zum brennenden Vorwurf. Der Juͤngling, der mit maͤchtigen Leidenſchaften ringt und ſeine Grundſaͤtze dem Leben Schritt fuͤr Schritt abſtreitet, iſt, ſo ungluͤcklich er ſich oft fuͤhlt, bei alledem wohl daran, waͤhrend uns der Bauernknecht in den Augen weh thut, der ver¬ achtet und vergeſſen, unwiſſend und trotzig vor ſeiner Stallthuͤre liegt und nach nichts verlangt, als nach ſeinem Vesperbrot. Jener Juͤngling gewinnt in jedem Sturme und ſeine Energie er¬ freut den Zuſchauer, dieſer ungluͤckliche Faulpelz aber wird durch das langweilige Troͤpfeln ſeiner naßkalten Tage zuletzt ganz verdorben. Kurz, man ſoll nur dasjenige Ungluͤck dulden, was ſei¬ nem Traͤger zur eigentlichen Zierde gereicht, alles

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 1. Braunschweig, 1854, S. 50. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich01_1854/64>, abgerufen am 21.11.2024.