und dies Blatt auf das Flüßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindischerweise dachte. Ich kämpfte lange mit diesem Vorsatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That für mich und ein Bekenntniß meines Geheimnis¬ ses, wobei ich freilich voraussetzte, daß es in nächster Nähe Niemand finden würde. Ich sah, wie es gemächlich von Welle zu Welle schlüpfte, hier von einer überhängenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es sich nach langem Besinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und schwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte sich später doch wieder irgendwo gesäumt haben, denn erst tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenstube, an die Brust einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbe¬ wahrte.
Dies erfuhr ich erst später, denn während meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich nie in ihr Haus und vermied den Weg desselben
und dies Blatt auf das Fluͤßchen zu legen, daß es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und dem Meere zu, wie ich kindiſcherweiſe dachte. Ich kaͤmpfte lange mit dieſem Vorſatze, allein ich unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That fuͤr mich und ein Bekenntniß meines Geheimniſ¬ ſes, wobei ich freilich vorausſetzte, daß es in naͤchſter Naͤhe Niemand finden wuͤrde. Ich ſah, wie es gemaͤchlich von Welle zu Welle ſchluͤpfte, hier von einer uͤberhaͤngenden Staude aufgehalten wurde, dann lange an einer Blume hing, bis es ſich nach langem Beſinnen losriß; zuletzt kam es in Schuß und ſchwamm flott dahin, daß ich es aus den Augen verlor. Allein der Brief mußte ſich ſpaͤter doch wieder irgendwo geſaͤumt haben, denn erſt tief in der Nacht gelangte er zu der Felswand der Heidenſtube, an die Bruſt einer badenden Frau, welche niemand anders als Judith war, die ihn auffing, las und aufbe¬ wahrte.
Dies erfuhr ich erſt ſpaͤter, denn waͤhrend meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich nie in ihr Haus und vermied den Weg deſſelben
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0204"n="194"/>
und dies Blatt auf das Fluͤßchen zu legen, daß<lb/>
es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und<lb/>
dem Meere zu, wie ich kindiſcherweiſe dachte.<lb/>
Ich kaͤmpfte lange mit dieſem Vorſatze, allein ich<lb/>
unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That<lb/>
fuͤr mich und ein Bekenntniß meines Geheimniſ¬<lb/>ſes, wobei ich freilich vorausſetzte, daß es in<lb/>
naͤchſter Naͤhe Niemand finden wuͤrde. Ich ſah,<lb/>
wie es gemaͤchlich von Welle zu Welle ſchluͤpfte,<lb/>
hier von einer uͤberhaͤngenden Staude aufgehalten<lb/>
wurde, dann lange an einer Blume hing, bis<lb/>
es ſich nach langem Beſinnen losriß; zuletzt kam<lb/>
es in Schuß und ſchwamm flott dahin, daß ich<lb/>
es aus den Augen verlor. Allein der Brief<lb/>
mußte ſich ſpaͤter doch wieder irgendwo geſaͤumt<lb/>
haben, denn erſt tief in der Nacht gelangte er zu<lb/>
der Felswand der Heidenſtube, an die Bruſt<lb/>
einer badenden Frau, welche niemand anders als<lb/>
Judith war, die ihn auffing, las und aufbe¬<lb/>
wahrte.</p><lb/><p>Dies erfuhr ich erſt ſpaͤter, denn waͤhrend<lb/>
meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich<lb/>
nie in ihr Haus und vermied den Weg deſſelben<lb/></p></div></body></text></TEI>
[194/0204]
und dies Blatt auf das Fluͤßchen zu legen, daß
es vor aller Welt hinabtrieb, dem Rheine und
dem Meere zu, wie ich kindiſcherweiſe dachte.
Ich kaͤmpfte lange mit dieſem Vorſatze, allein ich
unterlag zuletzt; denn es war eine befreiende That
fuͤr mich und ein Bekenntniß meines Geheimniſ¬
ſes, wobei ich freilich vorausſetzte, daß es in
naͤchſter Naͤhe Niemand finden wuͤrde. Ich ſah,
wie es gemaͤchlich von Welle zu Welle ſchluͤpfte,
hier von einer uͤberhaͤngenden Staude aufgehalten
wurde, dann lange an einer Blume hing, bis
es ſich nach langem Beſinnen losriß; zuletzt kam
es in Schuß und ſchwamm flott dahin, daß ich
es aus den Augen verlor. Allein der Brief
mußte ſich ſpaͤter doch wieder irgendwo geſaͤumt
haben, denn erſt tief in der Nacht gelangte er zu
der Felswand der Heidenſtube, an die Bruſt
einer badenden Frau, welche niemand anders als
Judith war, die ihn auffing, las und aufbe¬
wahrte.
Dies erfuhr ich erſt ſpaͤter, denn waͤhrend
meines jetzigen Aufenthaltes im Dorfe ging ich
nie in ihr Haus und vermied den Weg deſſelben
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 194. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/204>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.