ihn gegen den Schulmeister als einen verdienst¬ vollen und daher gewiß glücklichen Mann. Der Schulmeister schüttelte aber den Kopf, und meinte, es wäre nicht Alles Gold, was glänze. Er hatte seit einiger Zeit angefangen, mich zu dutzen und fuhr daher jetzt fort: Da du ein nachdenklicher Jüngling bist, so gebührt es dir auch, früher als Viele einen Blick in das Leben der Menschen zu gewinnen; denn ich halte dafür, daß die Kennt¬ niß recht vieler Fälle und Gestaltungen jungen Leuten mehr nützt, als alle moralischen Theorien; diese kommen erst dem Manne von Erfahrung zu, gewissermaßen als eine Entschädigung für das, was nicht mehr zu ändern ist. Der Statt¬ halter eifert nur darum so sehr gegen das, was er Entsagung nennt, weil er selbst eine Art Ent¬ sagender ist, d. h. weil er selbst diejenige Wirk¬ samkeit geopfert hat, die ihn erst glücklich machen würde und seinen Eigenschaften entspräche. Ob¬ gleich diese Selbstverläugnung in meinen Augen eine Tugend ist und er in seiner jetzigen Wirk¬ samkeit so verdienstlich und nützlich dasteht, als er es kaum anderswie könnte, so ist er doch nicht
ihn gegen den Schulmeiſter als einen verdienſt¬ vollen und daher gewiß gluͤcklichen Mann. Der Schulmeiſter ſchuͤttelte aber den Kopf, und meinte, es waͤre nicht Alles Gold, was glaͤnze. Er hatte ſeit einiger Zeit angefangen, mich zu dutzen und fuhr daher jetzt fort: Da du ein nachdenklicher Juͤngling biſt, ſo gebuͤhrt es dir auch, fruͤher als Viele einen Blick in das Leben der Menſchen zu gewinnen; denn ich halte dafuͤr, daß die Kennt¬ niß recht vieler Faͤlle und Geſtaltungen jungen Leuten mehr nuͤtzt, als alle moraliſchen Theorien; dieſe kommen erſt dem Manne von Erfahrung zu, gewiſſermaßen als eine Entſchaͤdigung fuͤr das, was nicht mehr zu aͤndern iſt. Der Statt¬ halter eifert nur darum ſo ſehr gegen das, was er Entſagung nennt, weil er ſelbſt eine Art Ent¬ ſagender iſt, d. h. weil er ſelbſt diejenige Wirk¬ ſamkeit geopfert hat, die ihn erſt gluͤcklich machen wuͤrde und ſeinen Eigenſchaften entſpraͤche. Ob¬ gleich dieſe Selbſtverlaͤugnung in meinen Augen eine Tugend iſt und er in ſeiner jetzigen Wirk¬ ſamkeit ſo verdienſtlich und nuͤtzlich daſteht, als er es kaum anderswie koͤnnte, ſo iſt er doch nicht
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ihn gegen den Schulmeiſter als einen verdienſt¬
vollen und daher gewiß gluͤcklichen Mann. Der
Schulmeiſter ſchuͤttelte aber den Kopf, und meinte,
es waͤre nicht Alles Gold, was glaͤnze. Er hatte
ſeit einiger Zeit angefangen, mich zu dutzen und
fuhr daher jetzt fort: Da du ein nachdenklicher
Juͤngling biſt, ſo gebuͤhrt es dir auch, fruͤher als
Viele einen Blick in das Leben der Menſchen zu
gewinnen; denn ich halte dafuͤr, daß die Kennt¬
niß recht vieler Faͤlle und Geſtaltungen jungen
Leuten mehr nuͤtzt, als alle moraliſchen Theorien;
dieſe kommen erſt dem Manne von Erfahrung
zu, gewiſſermaßen als eine Entſchaͤdigung fuͤr
das, was nicht mehr zu aͤndern iſt. Der Statt¬
halter eifert nur darum ſo ſehr gegen das, was
er Entſagung nennt, weil er ſelbſt eine Art Ent¬
ſagender iſt, d. h. weil er ſelbſt diejenige Wirk¬
ſamkeit geopfert hat, die ihn erſt gluͤcklich machen
wuͤrde und ſeinen Eigenſchaften entſpraͤche. Ob¬
gleich dieſe Selbſtverlaͤugnung in meinen Augen
eine Tugend iſt und er in ſeiner jetzigen Wirk¬
ſamkeit ſo verdienſtlich und nuͤtzlich daſteht, als er
es kaum anderswie koͤnnte, ſo iſt er doch nicht
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Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 2. Braunschweig, 1854, S. 395. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich02_1854/405>, abgerufen am 23.11.2024.
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