er nichts gegessen hat, und nichts zu essen hat, weil er nichts besitzt, nichts besitzt, weil er sich nichts erworben hat. An diesen einfachen und unscheinbaren Gedankengang reihen sich dann von selbst alle weiteren Folgerungen und Untersuchun¬ gen, und Heinrich, indem er nun in seiner Ein¬ samkeit vollständige Muße hatte und von keiner irdischen Nahrung beschwert war, überdachte sein Leben und seine Sünden, welche jedoch, da der Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit sich selbst stimmte, mehr als die Sättigung, welche manche übermüthige und geistreiche Ascese hervor¬ bringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im Ganzen befand er sich nicht sehr trübselig; die Einsamkeit that ihm eher wohl und das Hungern verwunderte ihn immer auf's Neue, während er in des Königs Gärten auf abgelegenen sonnigen Pfaden spazierte oder durch die belebte Stadt nach Hause ging; auch wunderte es ihn, daß ihm das Niemand ansah und ihn Niemand befragte, ob er gegessen habe? worauf er sich sogleich ant¬ wortete, daß dies sehr gesetzmäßig der Fall sei, da es Niemanden was anginge und er sich auch
er nichts gegeſſen hat, und nichts zu eſſen hat, weil er nichts beſitzt, nichts beſitzt, weil er ſich nichts erworben hat. An dieſen einfachen und unſcheinbaren Gedankengang reihen ſich dann von ſelbſt alle weiteren Folgerungen und Unterſuchun¬ gen, und Heinrich, indem er nun in ſeiner Ein¬ ſamkeit vollſtaͤndige Muße hatte und von keiner irdiſchen Nahrung beſchwert war, uͤberdachte ſein Leben und ſeine Suͤnden, welche jedoch, da der Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit ſich ſelbſt ſtimmte, mehr als die Saͤttigung, welche manche uͤbermuͤthige und geiſtreiche Asceſe hervor¬ bringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im Ganzen befand er ſich nicht ſehr truͤbſelig; die Einſamkeit that ihm eher wohl und das Hungern verwunderte ihn immer auf's Neue, waͤhrend er in des Koͤnigs Gaͤrten auf abgelegenen ſonnigen Pfaden ſpazierte oder durch die belebte Stadt nach Hauſe ging; auch wunderte es ihn, daß ihm das Niemand anſah und ihn Niemand befragte, ob er gegeſſen habe? worauf er ſich ſogleich ant¬ wortete, daß dies ſehr geſetzmaͤßig der Fall ſei, da es Niemanden was anginge und er ſich auch
<TEI><text><body><divn="1"><p><pbfacs="#f0167"n="157"/>
er nichts gegeſſen hat, und nichts zu eſſen hat,<lb/>
weil er nichts beſitzt, nichts beſitzt, weil er ſich<lb/>
nichts erworben hat. An dieſen einfachen und<lb/>
unſcheinbaren Gedankengang reihen ſich dann von<lb/>ſelbſt alle weiteren Folgerungen und Unterſuchun¬<lb/>
gen, und Heinrich, indem er nun in ſeiner Ein¬<lb/>ſamkeit vollſtaͤndige Muße hatte und von keiner<lb/>
irdiſchen Nahrung beſchwert war, uͤberdachte ſein<lb/>
Leben und ſeine Suͤnden, welche jedoch, da der<lb/>
Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit ſich<lb/>ſelbſt ſtimmte, mehr als die Saͤttigung, welche<lb/>
manche uͤbermuͤthige und geiſtreiche Asceſe hervor¬<lb/>
bringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im<lb/>
Ganzen befand er ſich nicht ſehr truͤbſelig; die<lb/>
Einſamkeit that ihm eher wohl und das Hungern<lb/>
verwunderte ihn immer auf's Neue, waͤhrend er<lb/>
in des Koͤnigs Gaͤrten auf abgelegenen ſonnigen<lb/>
Pfaden ſpazierte oder durch die belebte Stadt<lb/>
nach Hauſe ging; auch wunderte es ihn, daß ihm<lb/>
das Niemand anſah und ihn Niemand befragte,<lb/>
ob er gegeſſen habe? worauf er ſich ſogleich ant¬<lb/>
wortete, daß dies ſehr geſetzmaͤßig der Fall ſei,<lb/>
da es Niemanden was anginge und er ſich auch<lb/></p></div></body></text></TEI>
[157/0167]
er nichts gegeſſen hat, und nichts zu eſſen hat,
weil er nichts beſitzt, nichts beſitzt, weil er ſich
nichts erworben hat. An dieſen einfachen und
unſcheinbaren Gedankengang reihen ſich dann von
ſelbſt alle weiteren Folgerungen und Unterſuchun¬
gen, und Heinrich, indem er nun in ſeiner Ein¬
ſamkeit vollſtaͤndige Muße hatte und von keiner
irdiſchen Nahrung beſchwert war, uͤberdachte ſein
Leben und ſeine Suͤnden, welche jedoch, da der
Hunger ihn unmittelbar zum Mitleid mit ſich
ſelbſt ſtimmte, mehr als die Saͤttigung, welche
manche uͤbermuͤthige und geiſtreiche Asceſe hervor¬
bringt, noch ziemlich glimpflich ausfielen. Im
Ganzen befand er ſich nicht ſehr truͤbſelig; die
Einſamkeit that ihm eher wohl und das Hungern
verwunderte ihn immer auf's Neue, waͤhrend er
in des Koͤnigs Gaͤrten auf abgelegenen ſonnigen
Pfaden ſpazierte oder durch die belebte Stadt
nach Hauſe ging; auch wunderte es ihn, daß ihm
das Niemand anſah und ihn Niemand befragte,
ob er gegeſſen habe? worauf er ſich ſogleich ant¬
wortete, daß dies ſehr geſetzmaͤßig der Fall ſei,
da es Niemanden was anginge und er ſich auch
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 157. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/167>, abgerufen am 29.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.