Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855.

Bild:
<< vorherige Seite

kein Berg, sondern ein Mensch ist. Schon weil
seltener Weise das Grundstück nie aus unserem
Besitz gekommen ist und fortwährend welche von
uns hier gewohnt haben in gerader Linie, so er¬
fordert eine gewisse Dankbarkeit gegen diese Er¬
scheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich selbst
habe eine bürgerliche Frau genommen, welche früh
gestorben ist und mir keinen Erben hinterließ; ich
habe sie so geliebt, daß es mir nicht möglich war,
wieder zu heirathen, und wenn es nicht zu selt¬
sam klänge, so wäre ich fast froh, keinen Sohn
zu hinterlassen; denn wenn ich mir denken müßte,
daß diese Familiengeschichte noch einmal achthun¬
dert Jahre fortdauern könnte oder wollte, so würde
mir dieser Gedanke Kopfschmerzen machen, da es
Zeit ist, daß wir wieder untertauchen in die er¬
neuende Verborgenheit. Ich selbst bin im Verfall
des alten Reiches geboren und eigentlich schon
ganz überflüssig, so daß sich unser Stamm müde
fühlt in mir und nach kräftigender Dunkelheit sehnt.
Wenn ich einen Sohn hätte, so würde ich auch
Besitz und Stamm gewaltsam aufgegeben haben
und dahin gezogen sein, wo kein Herkommen gilt

kein Berg, ſondern ein Menſch iſt. Schon weil
ſeltener Weiſe das Grundſtuͤck nie aus unſerem
Beſitz gekommen iſt und fortwaͤhrend welche von
uns hier gewohnt haben in gerader Linie, ſo er¬
fordert eine gewiſſe Dankbarkeit gegen dieſe Er¬
ſcheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich ſelbſt
habe eine buͤrgerliche Frau genommen, welche fruͤh
geſtorben iſt und mir keinen Erben hinterließ; ich
habe ſie ſo geliebt, daß es mir nicht moͤglich war,
wieder zu heirathen, und wenn es nicht zu ſelt¬
ſam klaͤnge, ſo waͤre ich faſt froh, keinen Sohn
zu hinterlaſſen; denn wenn ich mir denken muͤßte,
daß dieſe Familiengeſchichte noch einmal achthun¬
dert Jahre fortdauern koͤnnte oder wollte, ſo wuͤrde
mir dieſer Gedanke Kopfſchmerzen machen, da es
Zeit iſt, daß wir wieder untertauchen in die er¬
neuende Verborgenheit. Ich ſelbſt bin im Verfall
des alten Reiches geboren und eigentlich ſchon
ganz uͤberfluͤſſig, ſo daß ſich unſer Stamm muͤde
fuͤhlt in mir und nach kraͤftigender Dunkelheit ſehnt.
Wenn ich einen Sohn haͤtte, ſo wuͤrde ich auch
Beſitz und Stamm gewaltſam aufgegeben haben
und dahin gezogen ſein, wo kein Herkommen gilt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0355" n="345"/>
kein Berg, &#x017F;ondern ein Men&#x017F;ch i&#x017F;t. Schon weil<lb/>
&#x017F;eltener Wei&#x017F;e das Grund&#x017F;tu&#x0364;ck nie aus un&#x017F;erem<lb/>
Be&#x017F;itz gekommen i&#x017F;t und fortwa&#x0364;hrend welche von<lb/>
uns hier gewohnt haben in gerader Linie, &#x017F;o er¬<lb/>
fordert eine gewi&#x017F;&#x017F;e Dankbarkeit gegen die&#x017F;e Er¬<lb/>
&#x017F;cheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
habe eine bu&#x0364;rgerliche Frau genommen, welche fru&#x0364;h<lb/>
ge&#x017F;torben i&#x017F;t und mir keinen Erben hinterließ; ich<lb/>
habe &#x017F;ie &#x017F;o geliebt, daß es mir nicht mo&#x0364;glich war,<lb/>
wieder zu heirathen, und wenn es nicht zu &#x017F;elt¬<lb/>
&#x017F;am kla&#x0364;nge, &#x017F;o wa&#x0364;re ich fa&#x017F;t froh, keinen Sohn<lb/>
zu hinterla&#x017F;&#x017F;en; denn wenn ich mir denken mu&#x0364;ßte,<lb/>
daß die&#x017F;e Familienge&#x017F;chichte noch einmal achthun¬<lb/>
dert Jahre fortdauern ko&#x0364;nnte oder wollte, &#x017F;o wu&#x0364;rde<lb/>
mir die&#x017F;er Gedanke Kopf&#x017F;chmerzen machen, da es<lb/>
Zeit i&#x017F;t, daß wir wieder untertauchen in die er¬<lb/>
neuende Verborgenheit. Ich &#x017F;elb&#x017F;t bin im Verfall<lb/>
des alten Reiches geboren und eigentlich &#x017F;chon<lb/>
ganz u&#x0364;berflu&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig, &#x017F;o daß &#x017F;ich un&#x017F;er Stamm mu&#x0364;de<lb/>
fu&#x0364;hlt in mir und nach kra&#x0364;ftigender Dunkelheit &#x017F;ehnt.<lb/>
Wenn ich einen Sohn ha&#x0364;tte, &#x017F;o wu&#x0364;rde ich auch<lb/>
Be&#x017F;itz und Stamm gewalt&#x017F;am aufgegeben haben<lb/>
und dahin gezogen &#x017F;ein, wo kein Herkommen gilt<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[345/0355] kein Berg, ſondern ein Menſch iſt. Schon weil ſeltener Weiſe das Grundſtuͤck nie aus unſerem Beſitz gekommen iſt und fortwaͤhrend welche von uns hier gewohnt haben in gerader Linie, ſo er¬ fordert eine gewiſſe Dankbarkeit gegen dieſe Er¬ ſcheinung, daß man ihr die Ehre gebe. Ich ſelbſt habe eine buͤrgerliche Frau genommen, welche fruͤh geſtorben iſt und mir keinen Erben hinterließ; ich habe ſie ſo geliebt, daß es mir nicht moͤglich war, wieder zu heirathen, und wenn es nicht zu ſelt¬ ſam klaͤnge, ſo waͤre ich faſt froh, keinen Sohn zu hinterlaſſen; denn wenn ich mir denken muͤßte, daß dieſe Familiengeſchichte noch einmal achthun¬ dert Jahre fortdauern koͤnnte oder wollte, ſo wuͤrde mir dieſer Gedanke Kopfſchmerzen machen, da es Zeit iſt, daß wir wieder untertauchen in die er¬ neuende Verborgenheit. Ich ſelbſt bin im Verfall des alten Reiches geboren und eigentlich ſchon ganz uͤberfluͤſſig, ſo daß ſich unſer Stamm muͤde fuͤhlt in mir und nach kraͤftigender Dunkelheit ſehnt. Wenn ich einen Sohn haͤtte, ſo wuͤrde ich auch Beſitz und Stamm gewaltſam aufgegeben haben und dahin gezogen ſein, wo kein Herkommen gilt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/355
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich. Bd. 4. Braunschweig, 1855, S. 345. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_heinrich04_1855/355>, abgerufen am 23.11.2024.