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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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beiden Lohäuser hatten als Knaben einst Posthorn und
Klarinette lernen sollen, die Arbeit aber frühzeitig eingestellt.

Solch' ideale Jugendbestrebungen kamen ihnen jetzt
im Unglück zustatten und liehen ihnen den Vorwand,
einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach
Brot und Abenteuern zu durchstreifen.

Brandolf seinerseits, der an einem Fenster des Post¬
hauses saß und durch das an demselben herabrieselnde
Regenwasser nach den drei grauen Brüdern hinausschaute,
konnte nicht im Zweifel sein, wen er da vor sich sehe.
Schrecken und Sorge um seine Braut waren die erste
Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnte nicht,
daß ihr böses Schicksal so nahe um sie her schweifte.
Dann stieg der Zorn mächtig in ihm auf und er ver¬
spürte Lust, die Peitsche seines Kutschers zu nehmen,
hinauszugehen und auf die drei Menschen einzuhauen.
Je länger er aber hinsah, desto milder wurde die gewalt¬
same Stimmung und verwandelte sich zuletzt in eine
launige Genugthuung, als er sich doch überzeugen mußte,
wie übel es den Kumpanen erging. Er sah, wie der
schlechte Schwendtner einmal um's andere die gerötheten
Augen wischte und sich an seinem durchlöcherten Schuh¬
werk zu schaffen machte, in welches er ein Stückchen
Birkenrinde schob, das er vor dem Schuppen fand, wäh¬
rend die Lohäuser aus dem Schnappsack einige Brotrinden
hervorsuchten und daran kauten, dann aber einen weg¬
geworfenen Cigarrenstummel aus dem Straßenkoth holten,

beiden Lohäuſer hatten als Knaben einſt Poſthorn und
Klarinette lernen ſollen, die Arbeit aber frühzeitig eingeſtellt.

Solch' ideale Jugendbeſtrebungen kamen ihnen jetzt
im Unglück zuſtatten und liehen ihnen den Vorwand,
einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach
Brot und Abenteuern zu durchſtreifen.

Brandolf ſeinerſeits, der an einem Fenſter des Poſt¬
hauſes ſaß und durch das an demſelben herabrieſelnde
Regenwaſſer nach den drei grauen Brüdern hinausſchaute,
konnte nicht im Zweifel ſein, wen er da vor ſich ſehe.
Schrecken und Sorge um ſeine Braut waren die erſte
Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnte nicht,
daß ihr böſes Schickſal ſo nahe um ſie her ſchweifte.
Dann ſtieg der Zorn mächtig in ihm auf und er ver¬
ſpürte Luſt, die Peitſche ſeines Kutſchers zu nehmen,
hinauszugehen und auf die drei Menſchen einzuhauen.
Je länger er aber hinſah, deſto milder wurde die gewalt¬
ſame Stimmung und verwandelte ſich zuletzt in eine
launige Genugthuung, als er ſich doch überzeugen mußte,
wie übel es den Kumpanen erging. Er ſah, wie der
ſchlechte Schwendtner einmal um's andere die gerötheten
Augen wiſchte und ſich an ſeinem durchlöcherten Schuh¬
werk zu ſchaffen machte, in welches er ein Stückchen
Birkenrinde ſchob, das er vor dem Schuppen fand, wäh¬
rend die Lohäuſer aus dem Schnappſack einige Brotrinden
hervorſuchten und daran kauten, dann aber einen weg¬
geworfenen Cigarrenſtummel aus dem Straßenkoth holten,

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[206/0216] beiden Lohäuſer hatten als Knaben einſt Poſthorn und Klarinette lernen ſollen, die Arbeit aber frühzeitig eingeſtellt. Solch' ideale Jugendbeſtrebungen kamen ihnen jetzt im Unglück zuſtatten und liehen ihnen den Vorwand, einen dauernden Verband zu bilden und das Land nach Brot und Abenteuern zu durchſtreifen. Brandolf ſeinerſeits, der an einem Fenſter des Poſt¬ hauſes ſaß und durch das an demſelben herabrieſelnde Regenwaſſer nach den drei grauen Brüdern hinausſchaute, konnte nicht im Zweifel ſein, wen er da vor ſich ſehe. Schrecken und Sorge um ſeine Braut waren die erſte Wirkung des unwillkommenen Anblickes. Sie ahnte nicht, daß ihr böſes Schickſal ſo nahe um ſie her ſchweifte. Dann ſtieg der Zorn mächtig in ihm auf und er ver¬ ſpürte Luſt, die Peitſche ſeines Kutſchers zu nehmen, hinauszugehen und auf die drei Menſchen einzuhauen. Je länger er aber hinſah, deſto milder wurde die gewalt¬ ſame Stimmung und verwandelte ſich zuletzt in eine launige Genugthuung, als er ſich doch überzeugen mußte, wie übel es den Kumpanen erging. Er ſah, wie der ſchlechte Schwendtner einmal um's andere die gerötheten Augen wiſchte und ſich an ſeinem durchlöcherten Schuh¬ werk zu ſchaffen machte, in welches er ein Stückchen Birkenrinde ſchob, das er vor dem Schuppen fand, wäh¬ rend die Lohäuſer aus dem Schnappſack einige Brotrinden hervorſuchten und daran kauten, dann aber einen weg¬ geworfenen Cigarrenſtummel aus dem Straßenkoth holten,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 206. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/216>, abgerufen am 21.11.2024.