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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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hast die andere Hälfte aufbewahrt, das ist auch thöricht,
aber es ist treu und beglückt mich. Ich werde nie die
Frau eines Mannes werden, es wäre denn Einer von
Euch Beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn
Beide fallen oder Beide zurückkehren, werde ich ledig
bleiben, als das Opfer eines heillosen unnatürlichen
Naturspieles oder unvernünftigen Ereignisses, das in
meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich
vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit
Schmach bedecken will! Da ich mir aber Keinen von Euch
todt denken kann und will, so lebt wohl auf ewig, liebste
Brüder!"

Nach diesen Worten fiel sie Jedem von uns um den
Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerst mich
und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und
endlich mich noch einmal. Wir standen wie vom Himmel
gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns
war die Situation ganz verflucht und ich habe weder im
Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage
wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja soeben erfahren
hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leiden¬
schaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küssen
kann, so werden diese, wenn sie das Weib lieben, niemals
dazu kommen, dasselbe nun gemeinsam anzufassen und
wieder zu küssen. Wir brauchten uns auch nicht darüber
zu besinnen, weil sie, ehe das möglich war, uns enteilte
und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend

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haſt die andere Hälfte aufbewahrt, das iſt auch thöricht,
aber es iſt treu und beglückt mich. Ich werde nie die
Frau eines Mannes werden, es wäre denn Einer von
Euch Beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn
Beide fallen oder Beide zurückkehren, werde ich ledig
bleiben, als das Opfer eines heilloſen unnatürlichen
Naturſpieles oder unvernünftigen Ereigniſſes, das in
meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich
vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit
Schmach bedecken will! Da ich mir aber Keinen von Euch
todt denken kann und will, ſo lebt wohl auf ewig, liebſte
Brüder!“

Nach dieſen Worten fiel ſie Jedem von uns um den
Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerſt mich
und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und
endlich mich noch einmal. Wir ſtanden wie vom Himmel
gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns
war die Situation ganz verflucht und ich habe weder im
Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage
wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja ſoeben erfahren
hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leiden¬
ſchaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küſſen
kann, ſo werden dieſe, wenn ſie das Weib lieben, niemals
dazu kommen, daſſelbe nun gemeinſam anzufaſſen und
wieder zu küſſen. Wir brauchten uns auch nicht darüber
zu beſinnen, weil ſie, ehe das möglich war, uns enteilte
und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend

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[227/0237] haſt die andere Hälfte aufbewahrt, das iſt auch thöricht, aber es iſt treu und beglückt mich. Ich werde nie die Frau eines Mannes werden, es wäre denn Einer von Euch Beiden; dazu müßte aber der Eine fallen! Wenn Beide fallen oder Beide zurückkehren, werde ich ledig bleiben, als das Opfer eines heilloſen unnatürlichen Naturſpieles oder unvernünftigen Ereigniſſes, das in meiner Seele und meinen Sinnen vorgeht und das ich vor der Welt verbergen muß, wenn ich mich nicht mit Schmach bedecken will! Da ich mir aber Keinen von Euch todt denken kann und will, ſo lebt wohl auf ewig, liebſte Brüder!“ Nach dieſen Worten fiel ſie Jedem von uns um den Hals und küßte ihn heftig auf den Mund, zuerſt mich und dann den Mannelin, hierauf den Mannelin und endlich mich noch einmal. Wir ſtanden wie vom Himmel gefallen und vermochten uns nicht zu regen. Für uns war die Situation ganz verflucht und ich habe weder im Krieg noch im Frieden eine ähnlich verzwickte Lage wieder erlebt. Denn wenn, wie wir es ja ſoeben erfahren hatten, ein ehrbares Frauenzimmer allenfalls in leiden¬ ſchaftlicher Wallung zwei Männer nacheinander küſſen kann, ſo werden dieſe, wenn ſie das Weib lieben, niemals dazu kommen, daſſelbe nun gemeinſam anzufaſſen und wieder zu küſſen. Wir brauchten uns auch nicht darüber zu beſinnen, weil ſie, ehe das möglich war, uns enteilte und im Vorbeigehen die Hand auf den Mund legend 15*

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/237>, abgerufen am 21.11.2024.