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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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ausrief: "Ihr verpfändet mir Euere Ehre, daß Ihr
schweigt!"

Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen;
wir verabschiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle Andern
unsere Hände schüttelte und die Thränen der Rührung
nicht verhehlte.

Da gingen wir nun mit unserem getheilten Glück
und Mißglück von hinnen und sprachen, nachdem wir
ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde
lang kein Wort miteinander, obgleich wir zusammen blieben.
Wir konnten uns nicht sehr gehoben fühlen; denn ein
Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein
guter Ritter und Kreuzfahrer sein; zwei gute Gesellen
aber, die der Gegenstand der Doppelneigung eines jungen
Mädchens sind, müssen sich doch etwas zu zwiefältig,
zu halbschürig vorkommen, und es ist nicht Jedermanns
Sache, ein siamesischer Zwilling zu sein. Dennoch hatte
uns das seltsame Geständniß Hildeburg's und ihre leiden¬
schaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangen
genommen, und wir liebten das schöne schlanke Naturspiel
unvermindert fort, zumal dasselbe ja noch tragischer als
wir gestellt war, wenn es sich so mit ihm verhielt, wie
es sagte.

Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik
über die gegenseitige Verlegenheit hinweg. Als wir den
Versammlungsort aufsuchten, wo an die hundert junge
Männer, die am nächsten Tage nach allen Seiten unter

ausrief: „Ihr verpfändet mir Euere Ehre, daß Ihr
ſchweigt!“

Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen;
wir verabſchiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle Andern
unſere Hände ſchüttelte und die Thränen der Rührung
nicht verhehlte.

Da gingen wir nun mit unſerem getheilten Glück
und Mißglück von hinnen und ſprachen, nachdem wir
ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde
lang kein Wort miteinander, obgleich wir zuſammen blieben.
Wir konnten uns nicht ſehr gehoben fühlen; denn ein
Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein
guter Ritter und Kreuzfahrer ſein; zwei gute Geſellen
aber, die der Gegenſtand der Doppelneigung eines jungen
Mädchens ſind, müſſen ſich doch etwas zu zwiefältig,
zu halbſchürig vorkommen, und es iſt nicht Jedermanns
Sache, ein ſiameſiſcher Zwilling zu ſein. Dennoch hatte
uns das ſeltſame Geſtändniß Hildeburg's und ihre leiden¬
ſchaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangen
genommen, und wir liebten das ſchöne ſchlanke Naturſpiel
unvermindert fort, zumal daſſelbe ja noch tragiſcher als
wir geſtellt war, wenn es ſich ſo mit ihm verhielt, wie
es ſagte.

Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik
über die gegenſeitige Verlegenheit hinweg. Als wir den
Verſammlungsort aufſuchten, wo an die hundert junge
Männer, die am nächſten Tage nach allen Seiten unter

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[228/0238] ausrief: „Ihr verpfändet mir Euere Ehre, daß Ihr ſchweigt!“ Es war uns nicht möglich, noch länger zu weilen; wir verabſchiedeten uns, wobei Hildeburg wie alle Andern unſere Hände ſchüttelte und die Thränen der Rührung nicht verhehlte. Da gingen wir nun mit unſerem getheilten Glück und Mißglück von hinnen und ſprachen, nachdem wir ein gezwungenes Lachen bald aufgegeben, über eine Stunde lang kein Wort miteinander, obgleich wir zuſammen blieben. Wir konnten uns nicht ſehr gehoben fühlen; denn ein Graf von Gleichen, der zwei Frauen hat, kann dabei ein guter Ritter und Kreuzfahrer ſein; zwei gute Geſellen aber, die der Gegenſtand der Doppelneigung eines jungen Mädchens ſind, müſſen ſich doch etwas zu zwiefältig, zu halbſchürig vorkommen, und es iſt nicht Jedermanns Sache, ein ſiameſiſcher Zwilling zu ſein. Dennoch hatte uns das ſeltſame Geſtändniß Hildeburg's und ihre leiden¬ ſchaftliche Umarmung Herz und Sinn noch vollends gefangen genommen, und wir liebten das ſchöne ſchlanke Naturſpiel unvermindert fort, zumal daſſelbe ja noch tragiſcher als wir geſtellt war, wenn es ſich ſo mit ihm verhielt, wie es ſagte. Es half uns denn auch das Empfinden der Tragik über die gegenſeitige Verlegenheit hinweg. Als wir den Verſammlungsort aufſuchten, wo an die hundert junge Männer, die am nächſten Tage nach allen Seiten unter

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/238>, abgerufen am 21.11.2024.