Innere des Klosters so voll Unruhe war, wie die übrige Stadt.
In der Herberge, die er aufgesucht, kaufte er von der Tochter eines plötzlich verstorbenen Bauers einen kleinen Esel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬ rock und ein zerrissenes Kopftuch; dann belud er den Esel mit einem Korbe voll frischer Orangen, schwang sich selbst, als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Esels und ritt gemächlich in der Richtung des Klosters davon. In diesem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬ zudringen, dessen Thüre sich just geöffnet hatte, um einen Arzt einzulassen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬ losigkeit herrschte, indem die Aebtissin soeben von der Krankheit ergriffen worden, so trieb die angebliche Orangen¬ dirne ihren Esel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige Klosterfrauen ängstlich spazieren gingen. Da fing er an, seine Früchte auszurufen und einen solchen Lärm zu machen als ein kreischendes Landmädchen, daß bald mehrere Nonnen herbei kamen und um den Esel herum standen. Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der schlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der schlechten und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬ lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und sich die kleine Erfrischung zu verschaffen. Einige suchten sich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem sie dieselben in der Hand wogen und an die Nase brachten, und inzwischen ließ Luis seine Augen verstohlen herum¬
Innere des Kloſters ſo voll Unruhe war, wie die übrige Stadt.
In der Herberge, die er aufgeſucht, kaufte er von der Tochter eines plötzlich verſtorbenen Bauers einen kleinen Eſel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬ rock und ein zerriſſenes Kopftuch; dann belud er den Eſel mit einem Korbe voll friſcher Orangen, ſchwang ſich ſelbſt, als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Eſels und ritt gemächlich in der Richtung des Kloſters davon. In dieſem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬ zudringen, deſſen Thüre ſich juſt geöffnet hatte, um einen Arzt einzulaſſen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬ loſigkeit herrſchte, indem die Aebtiſſin ſoeben von der Krankheit ergriffen worden, ſo trieb die angebliche Orangen¬ dirne ihren Eſel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige Kloſterfrauen ängſtlich ſpazieren gingen. Da fing er an, ſeine Früchte auszurufen und einen ſolchen Lärm zu machen als ein kreiſchendes Landmädchen, daß bald mehrere Nonnen herbei kamen und um den Eſel herum ſtanden. Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der ſchlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der ſchlechten und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬ lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und ſich die kleine Erfriſchung zu verſchaffen. Einige ſuchten ſich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem ſie dieſelben in der Hand wogen und an die Naſe brachten, und inzwiſchen ließ Luis ſeine Augen verſtohlen herum¬
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0340"n="330"/>
Innere des Kloſters ſo voll Unruhe war, wie die übrige<lb/>
Stadt.</p><lb/><p>In der Herberge, die er aufgeſucht, kaufte er von der<lb/>
Tochter eines plötzlich verſtorbenen Bauers einen kleinen<lb/>
Eſel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬<lb/>
rock und ein zerriſſenes Kopftuch; dann belud er den Eſel<lb/>
mit einem Korbe voll friſcher Orangen, ſchwang ſich ſelbſt,<lb/>
als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Eſels<lb/>
und ritt gemächlich in der Richtung des Kloſters davon.<lb/>
In dieſem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬<lb/>
zudringen, deſſen Thüre ſich juſt geöffnet hatte, um einen<lb/>
Arzt einzulaſſen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬<lb/>
loſigkeit herrſchte, indem die Aebtiſſin ſoeben von der<lb/>
Krankheit ergriffen worden, ſo trieb die angebliche Orangen¬<lb/>
dirne ihren Eſel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige<lb/>
Kloſterfrauen ängſtlich ſpazieren gingen. Da fing er an,<lb/>ſeine Früchte auszurufen und einen ſolchen Lärm zu<lb/>
machen als ein kreiſchendes Landmädchen, daß bald mehrere<lb/>
Nonnen herbei kamen und um den Eſel herum ſtanden.<lb/>
Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der<lb/>ſchlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der ſchlechten<lb/>
und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬<lb/>
lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und<lb/>ſich die kleine Erfriſchung zu verſchaffen. Einige ſuchten<lb/>ſich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem<lb/>ſie dieſelben in der Hand wogen und an die Naſe brachten,<lb/>
und inzwiſchen ließ Luis ſeine Augen verſtohlen herum¬<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[330/0340]
Innere des Kloſters ſo voll Unruhe war, wie die übrige
Stadt.
In der Herberge, die er aufgeſucht, kaufte er von der
Tochter eines plötzlich verſtorbenen Bauers einen kleinen
Eſel, und von einem Verkäufer alter Kleider einen Weiber¬
rock und ein zerriſſenes Kopftuch; dann belud er den Eſel
mit einem Korbe voll friſcher Orangen, ſchwang ſich ſelbſt,
als arme Bauerndirne gekleidet, auf das Kreuz des Eſels
und ritt gemächlich in der Richtung des Kloſters davon.
In dieſem Aufzuge gelang es ihm, in einen Vorhof ein¬
zudringen, deſſen Thüre ſich juſt geöffnet hatte, um einen
Arzt einzulaſſen; und da drinnen Verwirrung und Rath¬
loſigkeit herrſchte, indem die Aebtiſſin ſoeben von der
Krankheit ergriffen worden, ſo trieb die angebliche Orangen¬
dirne ihren Eſel unbeachtet bis in einen Garten, wo einige
Kloſterfrauen ängſtlich ſpazieren gingen. Da fing er an,
ſeine Früchte auszurufen und einen ſolchen Lärm zu
machen als ein kreiſchendes Landmädchen, daß bald mehrere
Nonnen herbei kamen und um den Eſel herum ſtanden.
Die Eine und Andere kaufte ein paar Orangen, die der
ſchlaue Knabe beinahe um Nichts hergab, der ſchlechten
und unglücklichen Zeit wegen, und der geringe Preis ver¬
lockte die guten Frauen, die Gelegenheit zu benutzen und
ſich die kleine Erfriſchung zu verſchaffen. Einige ſuchten
ſich unter den goldenen Kugeln einen Vorrath aus, indem
ſie dieſelben in der Hand wogen und an die Naſe brachten,
und inzwiſchen ließ Luis ſeine Augen verſtohlen herum¬
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Sie haben einen Fehler gefunden?
Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform
DTAQ melden.
Kommentar zur DTA-Ausgabe
Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend
gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien
von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem
DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.
Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 330. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/340>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.