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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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rasch erfolgte Erkrankungen und den Tod der Vorsteherin
das Kloster so erschreckt und verwirrt, daß während
einiger Tage weder Hausordnung noch Ordensregel
geachtet wurde, die Pforten auf- und zugingen und Jeder
that, was er wollte. Dieser Zustand verlockte die
Afrikanerin desto unwiderstehlicher, die Freiheit zu suchen,
um in ihr die Hand ihres Herren und die rechtmäßige
geliebte Unfreiheit wieder zu finden. Sie hatte deutlich
verstanden, was der verkleidete Luis gerufen, und es für
ein Zeichen genommen, daß sie ihren Gebieter aufsuchen
solle. Daher verließ sie in einer Abenddämmerung ein¬
fach das Kloster durch eine offen stehende Seitenthüre
und wanderte die Nacht hindurch um die Meerbucht von
Cadix herum und auf der Straße nach Norden, bis sie
zur Stadt Sevilla gelangte. Sie trug noch etwas Geld
bei sich verborgen, das ihr jetzt zu Statten kam, bald
aber zu Ende ging, weil sie von den Leuten überall
übervortheilt und betrogen wurde, als sie ihre Unerfahren¬
heit und Unkenntniß bemerkten. Sobald sie aber nichts
mehr besaß, erhielt sie das Wenige, um das sie aus
Hunger bat, um Gotteswillen. Von Sevilla aus fing
sie an, nach der Stadt Lissabon zu fragen und ging
unablässig in der Himmelsrichtung, die man ihr jeweilig
zeigte, über Ebenen und Gebirge und die Ströme und
Flüsse hinweg, viele Tage, Wochen lang; denn die öfteren
Irrgänge verdoppelten die Länge des Weges. Trotz aller
Mühsal waltete ein freundlicher Stern über ihrem Haupte,

raſch erfolgte Erkrankungen und den Tod der Vorſteherin
das Kloſter ſo erſchreckt und verwirrt, daß während
einiger Tage weder Hausordnung noch Ordensregel
geachtet wurde, die Pforten auf- und zugingen und Jeder
that, was er wollte. Dieſer Zuſtand verlockte die
Afrikanerin deſto unwiderſtehlicher, die Freiheit zu ſuchen,
um in ihr die Hand ihres Herren und die rechtmäßige
geliebte Unfreiheit wieder zu finden. Sie hatte deutlich
verſtanden, was der verkleidete Luis gerufen, und es für
ein Zeichen genommen, daß ſie ihren Gebieter aufſuchen
ſolle. Daher verließ ſie in einer Abenddämmerung ein¬
fach das Kloſter durch eine offen ſtehende Seitenthüre
und wanderte die Nacht hindurch um die Meerbucht von
Cadix herum und auf der Straße nach Norden, bis ſie
zur Stadt Sevilla gelangte. Sie trug noch etwas Geld
bei ſich verborgen, das ihr jetzt zu Statten kam, bald
aber zu Ende ging, weil ſie von den Leuten überall
übervortheilt und betrogen wurde, als ſie ihre Unerfahren¬
heit und Unkenntniß bemerkten. Sobald ſie aber nichts
mehr beſaß, erhielt ſie das Wenige, um das ſie aus
Hunger bat, um Gotteswillen. Von Sevilla aus fing
ſie an, nach der Stadt Liſſabon zu fragen und ging
unabläſſig in der Himmelsrichtung, die man ihr jeweilig
zeigte, über Ebenen und Gebirge und die Ströme und
Flüſſe hinweg, viele Tage, Wochen lang; denn die öfteren
Irrgänge verdoppelten die Länge des Weges. Trotz aller
Mühſal waltete ein freundlicher Stern über ihrem Haupte,

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[338/0348] raſch erfolgte Erkrankungen und den Tod der Vorſteherin das Kloſter ſo erſchreckt und verwirrt, daß während einiger Tage weder Hausordnung noch Ordensregel geachtet wurde, die Pforten auf- und zugingen und Jeder that, was er wollte. Dieſer Zuſtand verlockte die Afrikanerin deſto unwiderſtehlicher, die Freiheit zu ſuchen, um in ihr die Hand ihres Herren und die rechtmäßige geliebte Unfreiheit wieder zu finden. Sie hatte deutlich verſtanden, was der verkleidete Luis gerufen, und es für ein Zeichen genommen, daß ſie ihren Gebieter aufſuchen ſolle. Daher verließ ſie in einer Abenddämmerung ein¬ fach das Kloſter durch eine offen ſtehende Seitenthüre und wanderte die Nacht hindurch um die Meerbucht von Cadix herum und auf der Straße nach Norden, bis ſie zur Stadt Sevilla gelangte. Sie trug noch etwas Geld bei ſich verborgen, das ihr jetzt zu Statten kam, bald aber zu Ende ging, weil ſie von den Leuten überall übervortheilt und betrogen wurde, als ſie ihre Unerfahren¬ heit und Unkenntniß bemerkten. Sobald ſie aber nichts mehr beſaß, erhielt ſie das Wenige, um das ſie aus Hunger bat, um Gotteswillen. Von Sevilla aus fing ſie an, nach der Stadt Liſſabon zu fragen und ging unabläſſig in der Himmelsrichtung, die man ihr jeweilig zeigte, über Ebenen und Gebirge und die Ströme und Flüſſe hinweg, viele Tage, Wochen lang; denn die öfteren Irrgänge verdoppelten die Länge des Weges. Trotz aller Mühſal waltete ein freundlicher Stern über ihrem Haupte,

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/348>, abgerufen am 22.11.2024.