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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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halblaut vor sich hin, aber nur einen Augenblick, als ob
ihm etwas sehr Drolliges einfiele. Sonst ereignete sich
nichts Besonderes mehr. Er begleitete uns noch bis vor
unsere Hausthüre und verabschiedete sich, da er in der
Morgenfrühe abreisen wollte. Mir drückte er ernst und
gütig die Hand und ermahnte mich, ferner so lieb und
gut zu sein und fleißig zu lernen. Ich blickte ihm nach,
bis seine hohe Gestalt in der Abenddämmerung verschwand.
Dann trat ich in das Haus, während Fräulein Hansa
schon oben saß und ihre Jagdbeute musterte.

Frühzeitig ging ich zu Bette, um ungestört weinen
und über die ernste Wendung meines jungen Lebens,
über die Worte Leodegar's nachdenken zu können. All¬
mälig aber schlief ich ein, erwachte jedoch kurz nach
Mitternacht. Da stand ich leise auf und kleidete mich voll¬
ständig reisefertig an, worauf ich einen Handkorb mit
den nothwendigsten Sachen voll packte, endlich aber auch
einen Brief an meine Hausgenossinnen schrieb, worin ich
ihnen meldete, ich hätte ein Heimweh nach der Jugend¬
freundin meiner Mutter, der Nonne, empfunden und sei
in das Kloster hinuntergefahren, wo ich einige Zeit, bis
der Vater zurückkehre, verweilen werde. Punktum.

Hierauf nahm ich meine Nachtkerze und den Reise¬
oder vielmehr Marktkorb, schlich mit unhörbaren Schritten
in den Flur hinunter, öffnete die hintere Hausthüre, die
in den Garten führte, und stieg in den dort angebundenen
Nachen, den Korb auf dessen Boden setzend. Nach alle¬

halblaut vor ſich hin, aber nur einen Augenblick, als ob
ihm etwas ſehr Drolliges einfiele. Sonſt ereignete ſich
nichts Beſonderes mehr. Er begleitete uns noch bis vor
unſere Hausthüre und verabſchiedete ſich, da er in der
Morgenfrühe abreiſen wollte. Mir drückte er ernſt und
gütig die Hand und ermahnte mich, ferner ſo lieb und
gut zu ſein und fleißig zu lernen. Ich blickte ihm nach,
bis ſeine hohe Geſtalt in der Abenddämmerung verſchwand.
Dann trat ich in das Haus, während Fräulein Hanſa
ſchon oben ſaß und ihre Jagdbeute muſterte.

Frühzeitig ging ich zu Bette, um ungeſtört weinen
und über die ernſte Wendung meines jungen Lebens,
über die Worte Leodegar's nachdenken zu können. All¬
mälig aber ſchlief ich ein, erwachte jedoch kurz nach
Mitternacht. Da ſtand ich leiſe auf und kleidete mich voll¬
ſtändig reiſefertig an, worauf ich einen Handkorb mit
den nothwendigſten Sachen voll packte, endlich aber auch
einen Brief an meine Hausgenoſſinnen ſchrieb, worin ich
ihnen meldete, ich hätte ein Heimweh nach der Jugend¬
freundin meiner Mutter, der Nonne, empfunden und ſei
in das Kloſter hinuntergefahren, wo ich einige Zeit, bis
der Vater zurückkehre, verweilen werde. Punktum.

Hierauf nahm ich meine Nachtkerze und den Reiſe¬
oder vielmehr Marktkorb, ſchlich mit unhörbaren Schritten
in den Flur hinunter, öffnete die hintere Hausthüre, die
in den Garten führte, und ſtieg in den dort angebundenen
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[392/0402] halblaut vor ſich hin, aber nur einen Augenblick, als ob ihm etwas ſehr Drolliges einfiele. Sonſt ereignete ſich nichts Beſonderes mehr. Er begleitete uns noch bis vor unſere Hausthüre und verabſchiedete ſich, da er in der Morgenfrühe abreiſen wollte. Mir drückte er ernſt und gütig die Hand und ermahnte mich, ferner ſo lieb und gut zu ſein und fleißig zu lernen. Ich blickte ihm nach, bis ſeine hohe Geſtalt in der Abenddämmerung verſchwand. Dann trat ich in das Haus, während Fräulein Hanſa ſchon oben ſaß und ihre Jagdbeute muſterte. Frühzeitig ging ich zu Bette, um ungeſtört weinen und über die ernſte Wendung meines jungen Lebens, über die Worte Leodegar's nachdenken zu können. All¬ mälig aber ſchlief ich ein, erwachte jedoch kurz nach Mitternacht. Da ſtand ich leiſe auf und kleidete mich voll¬ ſtändig reiſefertig an, worauf ich einen Handkorb mit den nothwendigſten Sachen voll packte, endlich aber auch einen Brief an meine Hausgenoſſinnen ſchrieb, worin ich ihnen meldete, ich hätte ein Heimweh nach der Jugend¬ freundin meiner Mutter, der Nonne, empfunden und ſei in das Kloſter hinuntergefahren, wo ich einige Zeit, bis der Vater zurückkehre, verweilen werde. Punktum. Hierauf nahm ich meine Nachtkerze und den Reiſe¬ oder vielmehr Marktkorb, ſchlich mit unhörbaren Schritten in den Flur hinunter, öffnete die hintere Hausthüre, die in den Garten führte, und ſtieg in den dort angebundenen Nachen, den Korb auf deſſen Boden ſetzend. Nach alle¬

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 392. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/402>, abgerufen am 15.05.2024.