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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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an die Klosterpforte. Blaß von der Morgenkühle und
dem Nachtwachen zog ich die Glocke, mußte aber geraume
Zeit warten, bis die Pförtnerin kam und mich nach
einem kurzen Verhöre einließ. In der Vorhalle hieß sie
mich auf eine Bank sitzen; nicht weniger als der Knecht
über mein Erscheinen verblüfft, holte sie die Frau Schwester
Klara herbei, die eben aus der Kirche kam. Die gute
Tante Klara, wie ich die mütterliche Freundin sonst ge¬
nannt hatte, war im Begriffe gewesen, nach der Hora
noch das übliche Morgenschläfchen zu suchen, und kam
nun ganz erschrocken, mich zu sehen, zu fragen, was sich
ereignet habe, warum und auf welche Weise ich gekommen
sei u. s. w. Vor allem aber brachte sie mich in ihre
Zelle und vernahm mit neuer Verwunderung, doch nicht
ohne Rührung, daß ich mich einsam fühle und einige
Tage bei ihr weilen möchte. Ueber meine verwegene
Stromfahrt bekreuzte sie sich. Du armes Kind, rief sie,
wacht denn Niemand über dich?

Doch sogleich holte sie aus ihrem Wandschränklein ein
Gläschen duftigen Nonnenliqueurs und zwang mich, das
wärmende Tränklein mit einem würzigen Zuckerbrote zu
mir zu nehmen. Als dies geschehen, ruhte sie nicht, bis ich
auf ihrem Bette lag und einschlief, während sie sich selbst
mit ihrem Gebetbuche auf einen Schemel setzte und dem
Aufgang der Sonne entgegen sah.

Als die Glocke zur Morgensuppe geläutet wurde, kam
sie mich zu wecken; denn sie hatte inzwischen schon mit der

an die Kloſterpforte. Blaß von der Morgenkühle und
dem Nachtwachen zog ich die Glocke, mußte aber geraume
Zeit warten, bis die Pförtnerin kam und mich nach
einem kurzen Verhöre einließ. In der Vorhalle hieß ſie
mich auf eine Bank ſitzen; nicht weniger als der Knecht
über mein Erſcheinen verblüfft, holte ſie die Frau Schweſter
Klara herbei, die eben aus der Kirche kam. Die gute
Tante Klara, wie ich die mütterliche Freundin ſonſt ge¬
nannt hatte, war im Begriffe geweſen, nach der Hora
noch das übliche Morgenſchläfchen zu ſuchen, und kam
nun ganz erſchrocken, mich zu ſehen, zu fragen, was ſich
ereignet habe, warum und auf welche Weiſe ich gekommen
ſei u. ſ. w. Vor allem aber brachte ſie mich in ihre
Zelle und vernahm mit neuer Verwunderung, doch nicht
ohne Rührung, daß ich mich einſam fühle und einige
Tage bei ihr weilen möchte. Ueber meine verwegene
Stromfahrt bekreuzte ſie ſich. Du armes Kind, rief ſie,
wacht denn Niemand über dich?

Doch ſogleich holte ſie aus ihrem Wandſchränklein ein
Gläſchen duftigen Nonnenliqueurs und zwang mich, das
wärmende Tränklein mit einem würzigen Zuckerbrote zu
mir zu nehmen. Als dies geſchehen, ruhte ſie nicht, bis ich
auf ihrem Bette lag und einſchlief, während ſie ſich ſelbſt
mit ihrem Gebetbuche auf einen Schemel ſetzte und dem
Aufgang der Sonne entgegen ſah.

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[394/0404] an die Kloſterpforte. Blaß von der Morgenkühle und dem Nachtwachen zog ich die Glocke, mußte aber geraume Zeit warten, bis die Pförtnerin kam und mich nach einem kurzen Verhöre einließ. In der Vorhalle hieß ſie mich auf eine Bank ſitzen; nicht weniger als der Knecht über mein Erſcheinen verblüfft, holte ſie die Frau Schweſter Klara herbei, die eben aus der Kirche kam. Die gute Tante Klara, wie ich die mütterliche Freundin ſonſt ge¬ nannt hatte, war im Begriffe geweſen, nach der Hora noch das übliche Morgenſchläfchen zu ſuchen, und kam nun ganz erſchrocken, mich zu ſehen, zu fragen, was ſich ereignet habe, warum und auf welche Weiſe ich gekommen ſei u. ſ. w. Vor allem aber brachte ſie mich in ihre Zelle und vernahm mit neuer Verwunderung, doch nicht ohne Rührung, daß ich mich einſam fühle und einige Tage bei ihr weilen möchte. Ueber meine verwegene Stromfahrt bekreuzte ſie ſich. Du armes Kind, rief ſie, wacht denn Niemand über dich? Doch ſogleich holte ſie aus ihrem Wandſchränklein ein Gläſchen duftigen Nonnenliqueurs und zwang mich, das wärmende Tränklein mit einem würzigen Zuckerbrote zu mir zu nehmen. Als dies geſchehen, ruhte ſie nicht, bis ich auf ihrem Bette lag und einſchlief, während ſie ſich ſelbſt mit ihrem Gebetbuche auf einen Schemel ſetzte und dem Aufgang der Sonne entgegen ſah. Als die Glocke zur Morgenſuppe geläutet wurde, kam ſie mich zu wecken; denn ſie hatte inzwiſchen ſchon mit der

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/404>, abgerufen am 24.11.2024.