Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.Zephyr nimm's auf deine Flügel, Schling's um meiner Liebsten Kleid; Und so tritt sie vor den Spiegel All in ihrer Munterkeit, gelang ohne Anstoß, ebenso die folgende: Sieht mit Rosen sich umgeben, Selbst wie eine Rose jung, Einen Blick, geliebtes Leben! Und ich bin belohnt genung. Nur schien ihm das "genung" nicht in der Ordnung Einen Blick, geliebtes Leben! Und ich bin belohnt genuch. Reinhart und Lucie blickten sich unwillkürlich an. Fihle, was dies Herz empfindet -- ja pfindet, Reiche frei mir deine Hand, Und das Band, das uns verbindet -- ja bindet, Sei kein schwaches Rosenband! Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, sang er diese Reiche frei mir deine Hand Zephyr nimm's auf deine Flügel, Schling's um meiner Liebſten Kleid; Und ſo tritt ſie vor den Spiegel All in ihrer Munterkeit, gelang ohne Anſtoß, ebenſo die folgende: Sieht mit Roſen ſich umgeben, Selbſt wie eine Roſe jung, Einen Blick, geliebtes Leben! Und ich bin belohnt genung. Nur ſchien ihm das „genung“ nicht in der Ordnung Einen Blick, geliebtes Leben! Und ich bin belohnt genuch. Reinhart und Lucie blickten ſich unwillkürlich an. Fihle, was dies Herz empfindet — ja pfindet, Reiche frei mir deine Hand, Und das Band, das uns verbindet — ja bindet, Sei kein ſchwaches Roſenband! Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, ſang er dieſe Reiche frei mir deine Hand <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0422" n="412"/> <lg type="poem"> <l rendition="#et">Zephyr nimm's auf deine Flügel,</l><lb/> <l rendition="#et">Schling's um meiner Liebſten Kleid;</l><lb/> <l rendition="#et">Und ſo tritt ſie vor den Spiegel</l><lb/> <l rendition="#et">All in ihrer Munterkeit,</l><lb/> </lg> <p xml:id="p-0422a" prev="p-0421b" next="p-0422b">gelang ohne Anſtoß, ebenſo die folgende:</p><lb/> <lg type="poem"> <l rendition="#et">Sieht mit Roſen ſich umgeben,</l><lb/> <l rendition="#et">Selbſt wie eine Roſe jung,</l><lb/> <l rendition="#et">Einen Blick, geliebtes Leben!</l><lb/> <l rendition="#et">Und ich bin belohnt genung.</l><lb/> </lg> <p xml:id="p-0422b" prev="p-0422a">Nur ſchien ihm das „<hi rendition="#g">genung</hi>“ nicht in der Ordnung<lb/> zu ſein, und er ſang daher verbeſſernd:</p><lb/> <lg type="poem"> <l rendition="#et">Einen Blick, geliebtes Leben!</l><lb/> <l rendition="#et">Und ich bin belohnt <hi rendition="#g">genuch</hi>.</l><lb/> </lg> <p xml:id="p-0422c" next="p-0422d">Reinhart und Lucie blickten ſich unwillkürlich an.<lb/> Der Sänger im kleinen Hauſe ſchien für ſie mitzuſingen,<lb/> trotz jenes abſcheulichen Idioms. Welch' ein Frieden und<lb/> welch' herzliche Zuverſicht oder Lebenshoffnung pulſirten<lb/> in dieſen Sangeswellen. Am jenſeitigen Fenſter ſtand<lb/> ein mit Grün behangener Vogelkäfig. Nun kam aber die<lb/> letzte Strophe: Fihle, ſang er,</p><lb/> <lg type="poem"> <l rendition="#et">Fihle, was dies Herz empfindet — ja pfindet,</l><lb/> <l rendition="#et">Reiche frei mir deine Hand,</l><lb/> <l rendition="#et">Und das Band, das uns verbindet — ja bindet,</l><lb/> <l rendition="#et">Sei kein ſchwaches Roſenband!</l><lb/> </lg> <p xml:id="p-0422d" prev="p-0422c" next="p-0423a">Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, ſang er dieſe<lb/> Strophe mehrmals durch, immer heller und ſchöner, mit<lb/> dem Rücken gegen die Lauſcher draußen gewendet; im<lb/> Bewußtſein der nahen Glückserfüllung wiederholte er das</p><lb/> <lg type="poem"> <l rendition="#et">Reiche frei mir deine Hand</l><lb/> </lg> </div> </div> </body> </text> </TEI> [412/0422]
Zephyr nimm's auf deine Flügel,
Schling's um meiner Liebſten Kleid;
Und ſo tritt ſie vor den Spiegel
All in ihrer Munterkeit,
gelang ohne Anſtoß, ebenſo die folgende:
Sieht mit Roſen ſich umgeben,
Selbſt wie eine Roſe jung,
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genung.
Nur ſchien ihm das „genung“ nicht in der Ordnung
zu ſein, und er ſang daher verbeſſernd:
Einen Blick, geliebtes Leben!
Und ich bin belohnt genuch.
Reinhart und Lucie blickten ſich unwillkürlich an.
Der Sänger im kleinen Hauſe ſchien für ſie mitzuſingen,
trotz jenes abſcheulichen Idioms. Welch' ein Frieden und
welch' herzliche Zuverſicht oder Lebenshoffnung pulſirten
in dieſen Sangeswellen. Am jenſeitigen Fenſter ſtand
ein mit Grün behangener Vogelkäfig. Nun kam aber die
letzte Strophe: Fihle, ſang er,
Fihle, was dies Herz empfindet — ja pfindet,
Reiche frei mir deine Hand,
Und das Band, das uns verbindet — ja bindet,
Sei kein ſchwaches Roſenband!
Weil der Draht noch nicht ganz fertig war, ſang er dieſe
Strophe mehrmals durch, immer heller und ſchöner, mit
dem Rücken gegen die Lauſcher draußen gewendet; im
Bewußtſein der nahen Glückserfüllung wiederholte er das
Reiche frei mir deine Hand
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