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Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

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In diesem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel
schon ein Weilchen ganz erstaunt zugesehen, durch die
Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte
sie in das Haus, das er mit einer Drehung seines
Schlüssels rasch öffnete und eben so rasch wieder verschloß.
Das war so schnell geschehen, daß die Nachtschwärmer
ganz verblüfft dastanden und nichts besseres thun konnten,
als ihres Weges zu ziehen.

Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter be¬
reit standen, zündete Erwin sein Licht an und theilte das
Flämmchen mit der aufathmenden Magd, welche froh war,
sich geborgen zu wissen und die Herrschaft gebührlicher
Weise in der Küche erwarten zu können. Und wie es
der Welt Lauf ist, wurde sie von der Sprödigkeit ver¬
lassen, die sie soeben noch vor der Thüre aufrecht gehalten,
und sie litt es, als Erwin ihr mehr schüchtern als unter¬
nehmend Hand und Wange streichelte und dies nur einen
Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid fast so
dürftig war, wie der Werktagsanzug, vom billigsten Zeuge
und der ärmlichsten Machenschaft, so verboten doch Form
und Ausdruck des Gesichtes die unzarte Berührung Jedem,
der nicht eben zu den angetrunkenen Gesellen gehörte,
und dennoch schien dies Gesicht die Demuth selber zu
sein.

Von diesem Abend an nahm die stille Erscheinung
Erwin's Gedanken schon häufiger in Anspruch, und statt
ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog sie dieselben

In dieſem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel
ſchon ein Weilchen ganz erſtaunt zugeſehen, durch die
Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte
ſie in das Haus, das er mit einer Drehung ſeines
Schlüſſels raſch öffnete und eben ſo raſch wieder verſchloß.
Das war ſo ſchnell geſchehen, daß die Nachtſchwärmer
ganz verblüfft daſtanden und nichts beſſeres thun konnten,
als ihres Weges zu ziehen.

Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter be¬
reit ſtanden, zündete Erwin ſein Licht an und theilte das
Flämmchen mit der aufathmenden Magd, welche froh war,
ſich geborgen zu wiſſen und die Herrſchaft gebührlicher
Weiſe in der Küche erwarten zu können. Und wie es
der Welt Lauf iſt, wurde ſie von der Sprödigkeit ver¬
laſſen, die ſie ſoeben noch vor der Thüre aufrecht gehalten,
und ſie litt es, als Erwin ihr mehr ſchüchtern als unter¬
nehmend Hand und Wange ſtreichelte und dies nur einen
Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid faſt ſo
dürftig war, wie der Werktagsanzug, vom billigſten Zeuge
und der ärmlichſten Machenſchaft, ſo verboten doch Form
und Ausdruck des Geſichtes die unzarte Berührung Jedem,
der nicht eben zu den angetrunkenen Geſellen gehörte,
und dennoch ſchien dies Geſicht die Demuth ſelber zu
ſein.

Von dieſem Abend an nahm die ſtille Erſcheinung
Erwin's Gedanken ſchon häufiger in Anſpruch, und ſtatt
ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog ſie dieſelben

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[77/0087] In dieſem Augenblicke drang Erwin, der dem Spiel ſchon ein Weilchen ganz erſtaunt zugeſehen, durch die Leute, ergriff die zitternde Magd bei der Hand und führte ſie in das Haus, das er mit einer Drehung ſeines Schlüſſels raſch öffnete und eben ſo raſch wieder verſchloß. Das war ſo ſchnell geſchehen, daß die Nachtſchwärmer ganz verblüfft daſtanden und nichts beſſeres thun konnten, als ihres Weges zu ziehen. Auf dem Flur, wo jederzeit des Nachts Leuchter be¬ reit ſtanden, zündete Erwin ſein Licht an und theilte das Flämmchen mit der aufathmenden Magd, welche froh war, ſich geborgen zu wiſſen und die Herrſchaft gebührlicher Weiſe in der Küche erwarten zu können. Und wie es der Welt Lauf iſt, wurde ſie von der Sprödigkeit ver¬ laſſen, die ſie ſoeben noch vor der Thüre aufrecht gehalten, und ſie litt es, als Erwin ihr mehr ſchüchtern als unter¬ nehmend Hand und Wange ſtreichelte und dies nur einen Augenblick lang; denn obgleich ihr Sonntagskleid faſt ſo dürftig war, wie der Werktagsanzug, vom billigſten Zeuge und der ärmlichſten Machenſchaft, ſo verboten doch Form und Ausdruck des Geſichtes die unzarte Berührung Jedem, der nicht eben zu den angetrunkenen Geſellen gehörte, und dennoch ſchien dies Geſicht die Demuth ſelber zu ſein. Von dieſem Abend an nahm die ſtille Erſcheinung Erwin's Gedanken ſchon häufiger in Anſpruch, und ſtatt ihnen zum bloßen Ruhepunkt zu dienen, zog ſie dieſelben

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Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 77. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/87>, abgerufen am 25.11.2024.