Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882.

Bild:
<< vorherige Seite

standen im Militärdienste, der dritte half zu Hause, und
die fünf Töchter lebten meistens zerstreut als Dienstmägde
und mit verschiedenen Schicksalen, die nicht alle erfreulich
oder kummerlos waren für sie und die Angehörigen.

Ungefähr so gestaltet sich das Bild, das Erwin den
Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender
Größe, welche ihre Sterne verlassen haben, eines Ge¬
schlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht seine
Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte,
zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es
über den Leiden des Kampfes das Geschick verloren. Oder
war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬
geschlechte, das sich in die Lebensart des Jahrhunderts
nicht finden kann? Aus den unzusammenhängenden Mit¬
theilungen schloß er aber auch, daß Regine, obgleich das
jüngste der Kinder, gewissermaßen das beste, nämlich der
stille, anspruchslose Halt der Familie war, an welchen
sich Alle wendeten, und das deshalb so ärmlich gekleidet
ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während
die andern Schwestern nicht ermangelten sich aufzuputzen,
so gut sie es vermochten.

Auch heute war sie wieder in Anspruch genommen
worden. Erst neulich hatte sie fast ihren ganzen Viertel¬
jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in
übeln Umständen heim gekommen. Jetzt wurde der Vater
von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬
plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner schreiben

6*

ſtanden im Militärdienſte, der dritte half zu Hauſe, und
die fünf Töchter lebten meiſtens zerſtreut als Dienſtmägde
und mit verſchiedenen Schickſalen, die nicht alle erfreulich
oder kummerlos waren für ſie und die Angehörigen.

Ungefähr ſo geſtaltet ſich das Bild, das Erwin den
Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender
Größe, welche ihre Sterne verlaſſen haben, eines Ge¬
ſchlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht ſeine
Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte,
zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es
über den Leiden des Kampfes das Geſchick verloren. Oder
war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬
geſchlechte, das ſich in die Lebensart des Jahrhunderts
nicht finden kann? Aus den unzuſammenhängenden Mit¬
theilungen ſchloß er aber auch, daß Regine, obgleich das
jüngſte der Kinder, gewiſſermaßen das beſte, nämlich der
ſtille, anſpruchsloſe Halt der Familie war, an welchen
ſich Alle wendeten, und das deshalb ſo ärmlich gekleidet
ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während
die andern Schweſtern nicht ermangelten ſich aufzuputzen,
ſo gut ſie es vermochten.

Auch heute war ſie wieder in Anſpruch genommen
worden. Erſt neulich hatte ſie faſt ihren ganzen Viertel¬
jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in
übeln Umſtänden heim gekommen. Jetzt wurde der Vater
von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬
plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner ſchreiben

6*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0093" n="83"/>
&#x017F;tanden im Militärdien&#x017F;te, der dritte half zu Hau&#x017F;e, und<lb/>
die fünf Töchter lebten mei&#x017F;tens zer&#x017F;treut als Dien&#x017F;tmägde<lb/>
und mit ver&#x017F;chiedenen Schick&#x017F;alen, die nicht alle erfreulich<lb/>
oder kummerlos waren für &#x017F;ie und die Angehörigen.</p><lb/>
          <p>Ungefähr &#x017F;o ge&#x017F;taltet &#x017F;ich das Bild, das Erwin den<lb/>
Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender<lb/>
Größe, welche ihre Sterne verla&#x017F;&#x017F;en haben, eines Ge¬<lb/>
&#x017F;chlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht &#x017F;eine<lb/>
Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte,<lb/>
zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es<lb/>
über den Leiden des Kampfes das Ge&#x017F;chick verloren. Oder<lb/>
war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬<lb/>
ge&#x017F;chlechte, das &#x017F;ich in die Lebensart des Jahrhunderts<lb/>
nicht finden kann? Aus den unzu&#x017F;ammenhängenden Mit¬<lb/>
theilungen &#x017F;chloß er aber auch, daß Regine, obgleich das<lb/>
jüng&#x017F;te der Kinder, gewi&#x017F;&#x017F;ermaßen das be&#x017F;te, nämlich der<lb/>
&#x017F;tille, an&#x017F;pruchslo&#x017F;e Halt der Familie war, an welchen<lb/>
&#x017F;ich Alle wendeten, und das deshalb &#x017F;o ärmlich gekleidet<lb/>
ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während<lb/>
die andern Schwe&#x017F;tern nicht ermangelten &#x017F;ich aufzuputzen,<lb/>
&#x017F;o gut &#x017F;ie es vermochten.</p><lb/>
          <p>Auch heute war &#x017F;ie wieder in An&#x017F;pruch genommen<lb/>
worden. Er&#x017F;t neulich hatte &#x017F;ie fa&#x017F;t ihren ganzen Viertel¬<lb/>
jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in<lb/>
übeln Um&#x017F;tänden heim gekommen. Jetzt wurde der Vater<lb/>
von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬<lb/>
plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner &#x017F;chreiben<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">6*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[83/0093] ſtanden im Militärdienſte, der dritte half zu Hauſe, und die fünf Töchter lebten meiſtens zerſtreut als Dienſtmägde und mit verſchiedenen Schickſalen, die nicht alle erfreulich oder kummerlos waren für ſie und die Angehörigen. Ungefähr ſo geſtaltet ſich das Bild, das Erwin den Worten der Magd entnahm, beinahe das Bild verfallender Größe, welche ihre Sterne verlaſſen haben, eines Ge¬ ſchlechtes, das im Laufe der Jahrhunderte vielleicht ſeine Freiheit dreimal verloren und wieder gewonnen hatte, zuletzt aber nichts mehr damit anzufangen wußte, da es über den Leiden des Kampfes das Geſchick verloren. Oder war es zu vergleichen mit einem verkommenen Adels¬ geſchlechte, das ſich in die Lebensart des Jahrhunderts nicht finden kann? Aus den unzuſammenhängenden Mit¬ theilungen ſchloß er aber auch, daß Regine, obgleich das jüngſte der Kinder, gewiſſermaßen das beſte, nämlich der ſtille, anſpruchsloſe Halt der Familie war, an welchen ſich Alle wendeten, und das deshalb ſo ärmlich gekleidet ging, weil es Alles hergab, was es aufbrachte, während die andern Schweſtern nicht ermangelten ſich aufzuputzen, ſo gut ſie es vermochten. Auch heute war ſie wieder in Anſpruch genommen worden. Erſt neulich hatte ſie faſt ihren ganzen Viertel¬ jahrslohn den Eltern gebracht, da eine der Töchter in übeln Umſtänden heim gekommen. Jetzt wurde der Vater von einer nicht eben großen, aber dringenden Schuld ge¬ plagt und hatte durch die Mutter dem Dragoner ſchreiben 6*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/93
Zitationshilfe: Keller, Gottfried: Das Sinngedicht. Berlin, 1882, S. 83. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/keller_sinngedicht_1882/93>, abgerufen am 24.11.2024.