"tes und des Heils des Nebenmenschen bereit, und es ist "zu erwarten, daß keiner der Untersuchenden mit sehenden "Augen Ehre und Gewissen werde verlieren wollen. Es "ist entschuldbar, wenn Einer mit aller Treue nach einem "irrigen Grundsatz handelt, aber es ist auch Pflicht, seine "Grundsätze immer genauer zu prüfen, und es ist Groß- "muth, deren sich auch der Weise nicht schämen darf, wenn "er seinen Grundsatz in dem Augenblick verwirft, sobald "er ihn als Vorurtheil erkannt hat. Es ist hier um die "Wahrheit zu thun, und diese sollten alle christliche Reli- "gionen ohne Vorrecht, ohne Eifersucht und ohne Vorur- "theil zu entdecken trachten. Soll ich, als vielfältiger "Zeuge, läugnen, was meine Ohren gehört, meine Au- "gen gesehen, meine Finger befühlt und mein Verstand "geprüft haben? Ich würde Gott und die Wahrheit be- "leidigen."
Auf gleiche Weise äußert sich Lavater an Semler in einem Briefe:
"Was ich mit Gaßner zu thun habe? fragen Sie. Un- "tersuchen will ich, komme heraus, was da wolle. Unter- "suchungswerth ist die Sache, sie sey wahr oder falsch, "Kraft Gottes oder Betrug. Wer sich zu untersuchen schämt, "was für Naturforscher, Psychologen und Theologen wich- "tig ist, blos um des Gutachtens wegen, ist dieser Kind "oder Mann? Was ist Gaßner? Einige sagen, er ist gut, "andere, er verführe das Volk; beyde aber behaupten im- "mer, Thatsachen sind da, mehr oder weniger, warum "hüpft man über diese hinweg? Alles raisonnirt und er- "klärt, -- aber wo ist der, der blos beobachtet? Es ist "wirklich unterhaltend, zuzusehen, wie unlogisch man bey "dieser Sache verfährt, sey sie noch so lächerlich. Jeder "beurtheilt den Mann nicht nach Gaßners, sondern nach "seiner eigenen Theorie. Gaßner will kein Apostel seyn, "ist's also billig, seine Operationen mit den apostolischen "zu vergleichen? Gaßner will kein Wunderthäter seyn, "ist's also billig, irgend eine Theorie von Wundern, die man
„tes und des Heils des Nebenmenſchen bereit, und es iſt „zu erwarten, daß keiner der Unterſuchenden mit ſehenden „Augen Ehre und Gewiſſen werde verlieren wollen. Es „iſt entſchuldbar, wenn Einer mit aller Treue nach einem „irrigen Grundſatz handelt, aber es iſt auch Pflicht, ſeine „Grundſätze immer genauer zu prüfen, und es iſt Groß- „muth, deren ſich auch der Weiſe nicht ſchämen darf, wenn „er ſeinen Grundſatz in dem Augenblick verwirft, ſobald „er ihn als Vorurtheil erkannt hat. Es iſt hier um die „Wahrheit zu thun, und dieſe ſollten alle chriſtliche Reli- „gionen ohne Vorrecht, ohne Eiferſucht und ohne Vorur- „theil zu entdecken trachten. Soll ich, als vielfältiger „Zeuge, läugnen, was meine Ohren gehört, meine Au- „gen geſehen, meine Finger befühlt und mein Verſtand „geprüft haben? Ich würde Gott und die Wahrheit be- „leidigen.“
Auf gleiche Weiſe äußert ſich Lavater an Semler in einem Briefe:
„Was ich mit Gaßner zu thun habe? fragen Sie. Un- „terſuchen will ich, komme heraus, was da wolle. Unter- „ſuchungswerth iſt die Sache, ſie ſey wahr oder falſch, „Kraft Gottes oder Betrug. Wer ſich zu unterſuchen ſchämt, „was für Naturforſcher, Pſychologen und Theologen wich- „tig iſt, blos um des Gutachtens wegen, iſt dieſer Kind „oder Mann? Was iſt Gaßner? Einige ſagen, er iſt gut, „andere, er verführe das Volk; beyde aber behaupten im- „mer, Thatſachen ſind da, mehr oder weniger, warum „hüpft man über dieſe hinweg? Alles raiſonnirt und er- „klärt, — aber wo iſt der, der blos beobachtet? Es iſt „wirklich unterhaltend, zuzuſehen, wie unlogiſch man bey „dieſer Sache verfährt, ſey ſie noch ſo lächerlich. Jeder „beurtheilt den Mann nicht nach Gaßners, ſondern nach „ſeiner eigenen Theorie. Gaßner will kein Apoſtel ſeyn, „iſt’s alſo billig, ſeine Operationen mit den apoſtoliſchen „zu vergleichen? Gaßner will kein Wunderthäter ſeyn, „iſt’s alſo billig, irgend eine Theorie von Wundern, die man
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„tes und des Heils des Nebenmenſchen bereit, und es iſt
„zu erwarten, daß keiner der Unterſuchenden mit ſehenden
„Augen Ehre und Gewiſſen werde verlieren wollen. Es
„iſt entſchuldbar, wenn Einer mit aller Treue nach einem
„irrigen Grundſatz handelt, aber es iſt auch Pflicht, ſeine
„Grundſätze immer genauer zu prüfen, und es iſt Groß-
„muth, deren ſich auch der Weiſe nicht ſchämen darf, wenn
„er ſeinen Grundſatz in dem Augenblick verwirft, ſobald
„er ihn als Vorurtheil erkannt hat. Es iſt hier um die
„Wahrheit zu thun, und dieſe ſollten alle chriſtliche Reli-
„gionen ohne Vorrecht, ohne Eiferſucht und ohne Vorur-
„theil zu entdecken trachten. Soll ich, als vielfältiger
„Zeuge, läugnen, was meine Ohren gehört, meine Au-
„gen geſehen, meine Finger befühlt und mein Verſtand
„geprüft haben? Ich würde Gott und die Wahrheit be-
„leidigen.“
Auf gleiche Weiſe äußert ſich Lavater an Semler in
einem Briefe:
„Was ich mit Gaßner zu thun habe? fragen Sie. Un-
„terſuchen will ich, komme heraus, was da wolle. Unter-
„ſuchungswerth iſt die Sache, ſie ſey wahr oder falſch,
„Kraft Gottes oder Betrug. Wer ſich zu unterſuchen ſchämt,
„was für Naturforſcher, Pſychologen und Theologen wich-
„tig iſt, blos um des Gutachtens wegen, iſt dieſer Kind
„oder Mann? Was iſt Gaßner? Einige ſagen, er iſt gut,
„andere, er verführe das Volk; beyde aber behaupten im-
„mer, Thatſachen ſind da, mehr oder weniger, warum
„hüpft man über dieſe hinweg? Alles raiſonnirt und er-
„klärt, — aber wo iſt der, der blos beobachtet? Es iſt
„wirklich unterhaltend, zuzuſehen, wie unlogiſch man bey
„dieſer Sache verfährt, ſey ſie noch ſo lächerlich. Jeder
„beurtheilt den Mann nicht nach Gaßners, ſondern nach
„ſeiner eigenen Theorie. Gaßner will kein Apoſtel ſeyn,
„iſt’s alſo billig, ſeine Operationen mit den apoſtoliſchen
„zu vergleichen? Gaßner will kein Wunderthäter ſeyn,
„iſt’s alſo billig, irgend eine Theorie von Wundern, die man
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Kerner, Justinus: Geschichten Besessener neuerer Zeit. Karlsruhe, 1834, S. 154. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kerner_besessene_1834/168>, abgerufen am 18.07.2024.
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