Kinkel, Gottfried: Margret. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 4. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 199–262. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.hinzu, legte ihren Kopf auf seinen Schooß und rieb ihr die Schläfe mit Rum aus seiner Jagdflasche. Sie schlug die Augen auf und sah seine Blicke, besorgt und hold wie ehemals, über ihrem Antlitz schweben. Aber auch jetzt wachte nur Ein Gedanke in ihrer Seele; sie zog das Arzneifläschchen aus ihrem Busen, drückte es in seine Hand und sagte matt und leise: Nikola, dein Kind drunten in der Mühle will sterben, aber diese Tropfen können es vielleicht noch wenden. Bis hieher habe ich sie ihm geholt, ich kann nicht mehr. Gehe um Gottes Barmherzigkeit willen und trage du sie jetzt ins Mühlenthal; mich laß hier. Nikola umfaßte sie mit nassem Blick und sagte: Ist das wahr, Margret? Diese Nacht hast du überstanden um meines Kindes willen? Nun, so sollen alle guten Engel von mir weichen in meiner Todesstunde, wenn ich dich hier verlasse! Er nahm die Weigernde auf beide Arme und trug sie über das Schneefeld. In Margrets Adern begann das Blut wieder seinen vollen warmen Lauf. Nach wenigen Schritten sagte sie: Laß mich auf die Füße, ich kann wieder auftreten. Sie lehnte sich auf seinen Arm und ging anfangs schwer, dann immer flinker, der Heimath zu. Nur sprechen konnte sie nicht: je näher sie dem Lager ihres Kindes kam, desto ängstlicher drückte sie die neue Entscheidung über Leben und Tod, der sie nun entgegenging. Nikola erzählte ihr unter- hinzu, legte ihren Kopf auf seinen Schooß und rieb ihr die Schläfe mit Rum aus seiner Jagdflasche. Sie schlug die Augen auf und sah seine Blicke, besorgt und hold wie ehemals, über ihrem Antlitz schweben. Aber auch jetzt wachte nur Ein Gedanke in ihrer Seele; sie zog das Arzneifläschchen aus ihrem Busen, drückte es in seine Hand und sagte matt und leise: Nikola, dein Kind drunten in der Mühle will sterben, aber diese Tropfen können es vielleicht noch wenden. Bis hieher habe ich sie ihm geholt, ich kann nicht mehr. Gehe um Gottes Barmherzigkeit willen und trage du sie jetzt ins Mühlenthal; mich laß hier. Nikola umfaßte sie mit nassem Blick und sagte: Ist das wahr, Margret? Diese Nacht hast du überstanden um meines Kindes willen? Nun, so sollen alle guten Engel von mir weichen in meiner Todesstunde, wenn ich dich hier verlasse! Er nahm die Weigernde auf beide Arme und trug sie über das Schneefeld. In Margrets Adern begann das Blut wieder seinen vollen warmen Lauf. Nach wenigen Schritten sagte sie: Laß mich auf die Füße, ich kann wieder auftreten. Sie lehnte sich auf seinen Arm und ging anfangs schwer, dann immer flinker, der Heimath zu. Nur sprechen konnte sie nicht: je näher sie dem Lager ihres Kindes kam, desto ängstlicher drückte sie die neue Entscheidung über Leben und Tod, der sie nun entgegenging. Nikola erzählte ihr unter- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0063"/> hinzu, legte ihren Kopf auf seinen Schooß und rieb ihr die Schläfe mit Rum aus seiner Jagdflasche. Sie schlug die Augen auf und sah seine Blicke, besorgt und hold wie ehemals, über ihrem Antlitz schweben. Aber auch jetzt wachte nur Ein Gedanke in ihrer Seele; sie zog das Arzneifläschchen aus ihrem Busen, drückte es in seine Hand und sagte matt und leise: Nikola, dein Kind drunten in der Mühle will sterben, aber diese Tropfen können es vielleicht noch wenden. Bis hieher habe ich sie ihm geholt, ich kann nicht mehr. Gehe um Gottes Barmherzigkeit willen und trage du sie jetzt ins Mühlenthal; mich laß hier.</p><lb/> <p>Nikola umfaßte sie mit nassem Blick und sagte: Ist das wahr, Margret? Diese Nacht hast du überstanden um meines Kindes willen? Nun, so sollen alle guten Engel von mir weichen in meiner Todesstunde, wenn ich dich hier verlasse!</p><lb/> <p>Er nahm die Weigernde auf beide Arme und trug sie über das Schneefeld. In Margrets Adern begann das Blut wieder seinen vollen warmen Lauf. Nach wenigen Schritten sagte sie: Laß mich auf die Füße, ich kann wieder auftreten. Sie lehnte sich auf seinen Arm und ging anfangs schwer, dann immer flinker, der Heimath zu. Nur sprechen konnte sie nicht: je näher sie dem Lager ihres Kindes kam, desto ängstlicher drückte sie die neue Entscheidung über Leben und Tod, der sie nun entgegenging. Nikola erzählte ihr unter-<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0063]
hinzu, legte ihren Kopf auf seinen Schooß und rieb ihr die Schläfe mit Rum aus seiner Jagdflasche. Sie schlug die Augen auf und sah seine Blicke, besorgt und hold wie ehemals, über ihrem Antlitz schweben. Aber auch jetzt wachte nur Ein Gedanke in ihrer Seele; sie zog das Arzneifläschchen aus ihrem Busen, drückte es in seine Hand und sagte matt und leise: Nikola, dein Kind drunten in der Mühle will sterben, aber diese Tropfen können es vielleicht noch wenden. Bis hieher habe ich sie ihm geholt, ich kann nicht mehr. Gehe um Gottes Barmherzigkeit willen und trage du sie jetzt ins Mühlenthal; mich laß hier.
Nikola umfaßte sie mit nassem Blick und sagte: Ist das wahr, Margret? Diese Nacht hast du überstanden um meines Kindes willen? Nun, so sollen alle guten Engel von mir weichen in meiner Todesstunde, wenn ich dich hier verlasse!
Er nahm die Weigernde auf beide Arme und trug sie über das Schneefeld. In Margrets Adern begann das Blut wieder seinen vollen warmen Lauf. Nach wenigen Schritten sagte sie: Laß mich auf die Füße, ich kann wieder auftreten. Sie lehnte sich auf seinen Arm und ging anfangs schwer, dann immer flinker, der Heimath zu. Nur sprechen konnte sie nicht: je näher sie dem Lager ihres Kindes kam, desto ängstlicher drückte sie die neue Entscheidung über Leben und Tod, der sie nun entgegenging. Nikola erzählte ihr unter-
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