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Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Zeit ein Zustand des Glücks und der Ruhe, so wirkt ein Spätfrühling größere Wunder, als je ein Lebensmai.

Sie berührte leicht präludirend die Tasten, und als wollte sie die eben erst verrauschten Accorde mit den folgenden vermitteln, ging sie unmerklich aus jenen Anklängen in die Tonart der zauberhaften Nocturnen von Chopin über, die sie heute zum Erstenmale ihren Zuhörern vorführte. Wie leises Glockenläuten aus einer im Meere versunkenen Stadt beim stillen Abendroth heraustönt, so märchenhaft fassen diese ungeahnten Melodiken die Seele in ihren geheimen Abgründen. Es ist, als ob in diese Musik die Stimmen der Nacht gebannt wären, die uns im einsamen Walde, von den Sternen herab und aus dem See herauf anzurufen scheinen.

Wenige vermögen es indessen, diesen Zauber zu beschwören. Wer mit prosaischem Sinne nur Noten abspielen kann, der lös't das Räthsel nicht, und verworrene Klänge beunruhigen den Hörer. Ida verstand, jeder Fingerspitze Zartgefühl einzuhauchen, hier einen Ton ins Licht, dort einen in die Dämmerung zurücktreten zu lassen, wie es das Tonbild forderte.

An diesem Anschlag, der die Herrscherin über die Saiten verrieth, die dem todten, starren Metall ein warmes Leben, einen ewig bewegten Geist einhauchte, erkannte Selvar sie zuerst, und noch einmal tauchte der verschollene Traum jener Tage vor ihm auf. Keinen Blick verwandte er von ihr, bis das Schattenbild aus

Zeit ein Zustand des Glücks und der Ruhe, so wirkt ein Spätfrühling größere Wunder, als je ein Lebensmai.

Sie berührte leicht präludirend die Tasten, und als wollte sie die eben erst verrauschten Accorde mit den folgenden vermitteln, ging sie unmerklich aus jenen Anklängen in die Tonart der zauberhaften Nocturnen von Chopin über, die sie heute zum Erstenmale ihren Zuhörern vorführte. Wie leises Glockenläuten aus einer im Meere versunkenen Stadt beim stillen Abendroth heraustönt, so märchenhaft fassen diese ungeahnten Melodiken die Seele in ihren geheimen Abgründen. Es ist, als ob in diese Musik die Stimmen der Nacht gebannt wären, die uns im einsamen Walde, von den Sternen herab und aus dem See herauf anzurufen scheinen.

Wenige vermögen es indessen, diesen Zauber zu beschwören. Wer mit prosaischem Sinne nur Noten abspielen kann, der lös't das Räthsel nicht, und verworrene Klänge beunruhigen den Hörer. Ida verstand, jeder Fingerspitze Zartgefühl einzuhauchen, hier einen Ton ins Licht, dort einen in die Dämmerung zurücktreten zu lassen, wie es das Tonbild forderte.

An diesem Anschlag, der die Herrscherin über die Saiten verrieth, die dem todten, starren Metall ein warmes Leben, einen ewig bewegten Geist einhauchte, erkannte Selvar sie zuerst, und noch einmal tauchte der verschollene Traum jener Tage vor ihm auf. Keinen Blick verwandte er von ihr, bis das Schattenbild aus

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[0071] Zeit ein Zustand des Glücks und der Ruhe, so wirkt ein Spätfrühling größere Wunder, als je ein Lebensmai. Sie berührte leicht präludirend die Tasten, und als wollte sie die eben erst verrauschten Accorde mit den folgenden vermitteln, ging sie unmerklich aus jenen Anklängen in die Tonart der zauberhaften Nocturnen von Chopin über, die sie heute zum Erstenmale ihren Zuhörern vorführte. Wie leises Glockenläuten aus einer im Meere versunkenen Stadt beim stillen Abendroth heraustönt, so märchenhaft fassen diese ungeahnten Melodiken die Seele in ihren geheimen Abgründen. Es ist, als ob in diese Musik die Stimmen der Nacht gebannt wären, die uns im einsamen Walde, von den Sternen herab und aus dem See herauf anzurufen scheinen. Wenige vermögen es indessen, diesen Zauber zu beschwören. Wer mit prosaischem Sinne nur Noten abspielen kann, der lös't das Räthsel nicht, und verworrene Klänge beunruhigen den Hörer. Ida verstand, jeder Fingerspitze Zartgefühl einzuhauchen, hier einen Ton ins Licht, dort einen in die Dämmerung zurücktreten zu lassen, wie es das Tonbild forderte. An diesem Anschlag, der die Herrscherin über die Saiten verrieth, die dem todten, starren Metall ein warmes Leben, einen ewig bewegten Geist einhauchte, erkannte Selvar sie zuerst, und noch einmal tauchte der verschollene Traum jener Tage vor ihm auf. Keinen Blick verwandte er von ihr, bis das Schattenbild aus

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T13:10:50Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T13:10:50Z)

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Zitationshilfe: Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/71>, abgerufen am 23.11.2024.