Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.Fast ohne merkliches Kopfneigen, nur mit dem Blicke lenkte Ida den Chor, den sie, wie Selvar von einem Nachbar erfuhr, selbst gebildet hatte. Sie ist an ihrem Platz, dachte er, als er den Saal verließ und den heitern Abschied sah, den die Sänger von ihrer Dirigentin nahmen. Er schwankte, ob er zu ihr treten und sie begrüßen sollte, doch eine Art von Verstimmung hielt ihn zurück, als er sie so strahlend von Freude an Sohling's Arm sah. Es schien ihm aus den Mienen der beiden Glücklichen, als schriebe Jeder dem Andern seinen Erfolg zu und als dankten sie einander mit jedem Athemzuge, während er unbeachtet ihr fern stand. In den Gasthof zurückgekehrt, öffnete Selvar ein Fenster und lehnte sich in die kühle Nachtluft hinaus. An dem Hause gegenüber fuhr ein Wagen vor, und bei dem hellen Kerzenschein glaubte er Ida's Gestalt rasch in den Hausflur schreiten zu sehen. Oben wurden einige Fenster erhellt; gewiß, sie war es, die hereintrat im weiß und lichtblau gestreiften schimmernden Seidenkleid, mit den rabenschwarzen Locken, die über die Wangen herabfielen. Nun konnte er dem Wunsch nicht Schweigen gebieten, noch einmal ihre Stimme zu hören. Er schickte seine Karte hinüber mit der Frage, ob er so spät noch einen kurzen Besuch wagen dürfe. Eine bejahende Antwort lud ihn zu dem Künstlerpaare. Mit unbefangener Herzlichkeit ward er von Sohling und Ida empfangen, obgleich die Wangen der letzteren Fast ohne merkliches Kopfneigen, nur mit dem Blicke lenkte Ida den Chor, den sie, wie Selvar von einem Nachbar erfuhr, selbst gebildet hatte. Sie ist an ihrem Platz, dachte er, als er den Saal verließ und den heitern Abschied sah, den die Sänger von ihrer Dirigentin nahmen. Er schwankte, ob er zu ihr treten und sie begrüßen sollte, doch eine Art von Verstimmung hielt ihn zurück, als er sie so strahlend von Freude an Sohling's Arm sah. Es schien ihm aus den Mienen der beiden Glücklichen, als schriebe Jeder dem Andern seinen Erfolg zu und als dankten sie einander mit jedem Athemzuge, während er unbeachtet ihr fern stand. In den Gasthof zurückgekehrt, öffnete Selvar ein Fenster und lehnte sich in die kühle Nachtluft hinaus. An dem Hause gegenüber fuhr ein Wagen vor, und bei dem hellen Kerzenschein glaubte er Ida's Gestalt rasch in den Hausflur schreiten zu sehen. Oben wurden einige Fenster erhellt; gewiß, sie war es, die hereintrat im weiß und lichtblau gestreiften schimmernden Seidenkleid, mit den rabenschwarzen Locken, die über die Wangen herabfielen. Nun konnte er dem Wunsch nicht Schweigen gebieten, noch einmal ihre Stimme zu hören. Er schickte seine Karte hinüber mit der Frage, ob er so spät noch einen kurzen Besuch wagen dürfe. Eine bejahende Antwort lud ihn zu dem Künstlerpaare. Mit unbefangener Herzlichkeit ward er von Sohling und Ida empfangen, obgleich die Wangen der letzteren <TEI> <text> <body> <div n="3"> <p><pb facs="#f0073"/> Fast ohne merkliches Kopfneigen, nur mit dem Blicke lenkte Ida den Chor, den sie, wie Selvar von einem Nachbar erfuhr, selbst gebildet hatte.</p><lb/> <p>Sie ist an ihrem Platz, dachte er, als er den Saal verließ und den heitern Abschied sah, den die Sänger von ihrer Dirigentin nahmen. Er schwankte, ob er zu ihr treten und sie begrüßen sollte, doch eine Art von Verstimmung hielt ihn zurück, als er sie so strahlend von Freude an Sohling's Arm sah. Es schien ihm aus den Mienen der beiden Glücklichen, als schriebe Jeder dem Andern seinen Erfolg zu und als dankten sie einander mit jedem Athemzuge, während er unbeachtet ihr fern stand.</p><lb/> <p>In den Gasthof zurückgekehrt, öffnete Selvar ein Fenster und lehnte sich in die kühle Nachtluft hinaus. An dem Hause gegenüber fuhr ein Wagen vor, und bei dem hellen Kerzenschein glaubte er Ida's Gestalt rasch in den Hausflur schreiten zu sehen. Oben wurden einige Fenster erhellt; gewiß, sie war es, die hereintrat im weiß und lichtblau gestreiften schimmernden Seidenkleid, mit den rabenschwarzen Locken, die über die Wangen herabfielen. Nun konnte er dem Wunsch nicht Schweigen gebieten, noch einmal ihre Stimme zu hören.</p><lb/> <p>Er schickte seine Karte hinüber mit der Frage, ob er so spät noch einen kurzen Besuch wagen dürfe. Eine bejahende Antwort lud ihn zu dem Künstlerpaare.</p><lb/> <p>Mit unbefangener Herzlichkeit ward er von Sohling und Ida empfangen, obgleich die Wangen der letzteren<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0073]
Fast ohne merkliches Kopfneigen, nur mit dem Blicke lenkte Ida den Chor, den sie, wie Selvar von einem Nachbar erfuhr, selbst gebildet hatte.
Sie ist an ihrem Platz, dachte er, als er den Saal verließ und den heitern Abschied sah, den die Sänger von ihrer Dirigentin nahmen. Er schwankte, ob er zu ihr treten und sie begrüßen sollte, doch eine Art von Verstimmung hielt ihn zurück, als er sie so strahlend von Freude an Sohling's Arm sah. Es schien ihm aus den Mienen der beiden Glücklichen, als schriebe Jeder dem Andern seinen Erfolg zu und als dankten sie einander mit jedem Athemzuge, während er unbeachtet ihr fern stand.
In den Gasthof zurückgekehrt, öffnete Selvar ein Fenster und lehnte sich in die kühle Nachtluft hinaus. An dem Hause gegenüber fuhr ein Wagen vor, und bei dem hellen Kerzenschein glaubte er Ida's Gestalt rasch in den Hausflur schreiten zu sehen. Oben wurden einige Fenster erhellt; gewiß, sie war es, die hereintrat im weiß und lichtblau gestreiften schimmernden Seidenkleid, mit den rabenschwarzen Locken, die über die Wangen herabfielen. Nun konnte er dem Wunsch nicht Schweigen gebieten, noch einmal ihre Stimme zu hören.
Er schickte seine Karte hinüber mit der Frage, ob er so spät noch einen kurzen Besuch wagen dürfe. Eine bejahende Antwort lud ihn zu dem Künstlerpaare.
Mit unbefangener Herzlichkeit ward er von Sohling und Ida empfangen, obgleich die Wangen der letzteren
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Zitationshilfe: | Kinkel, Johanna: Musikalische Orthodoxie. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 17. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 99–171. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/kinkel_orthodoxie_1910/73>, abgerufen am 17.02.2025. |