Kleinpaul, Ernst: Die Lehre von den Formen und Gattungen der deutschen Dichtkunst. Für höhere Lehranstalten, so wie zum Selbstunterricht. Barmen, 1843.pkl_138.001 §. 201. Die große Verwandtschaft, in welcher -- pkl_138.028 pkl_138.001 §. 201. Die große Verwandtschaft, in welcher — pkl_138.028 <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0164" n="138"/><lb n="pkl_138.001"/> Erzählung ist durchaus vergegenwärtigend; die Romanze <lb n="pkl_138.002"/> dagegen legt nicht selten auch die <hi rendition="#g">Beweggründe,</hi> <lb n="pkl_138.003"/> die <hi rendition="#g">innere Seite des Handelns</hi> dar. <lb n="pkl_138.004"/> Jn der Romanze schreitet die Erzählung <hi rendition="#g">mehr gleichmäßig</hi> <lb n="pkl_138.005"/> fort, in der Ballade dagegen <hi rendition="#g">überspringt</hi> <lb n="pkl_138.006"/> sie oft mehr oder weniger Wesentliches, läßt dieses jedoch <lb n="pkl_138.007"/> durch Vorhergehendes oder Nachfolgendes errathen, <lb n="pkl_138.008"/> oder läßt <hi rendition="#g">Lücken,</hi> welche die Phantasie des Lesers oder <lb n="pkl_138.009"/> Hörers, die dadurch um so mehr aufgeregt wird, selbst <lb n="pkl_138.010"/> auszufüllen hat, aber auch auszufüllen im Stande sein <lb n="pkl_138.011"/> muß. Ueberhaupt steht der Ballade eine in etwa „<hi rendition="#g">mysteriöse</hi> <lb n="pkl_138.012"/> Behandlung“ wohl an, die jedoch nicht in <lb n="pkl_138.013"/> Unverständlichkeit ausarten, nicht den Effekt schwächen, <lb n="pkl_138.014"/> sondern ihn erhöhen muß; die Romanze dagegen ist in <lb n="pkl_138.015"/> der Regel von vorn herein und durch und durch klar. <lb n="pkl_138.016"/> Der Jnhalt der Ballade gestaltet sich meist <hi rendition="#g">tragisch, <lb n="pkl_138.017"/> düster;</hi> wo sie nicht durch eine Beimischung des Wunderbaren, <lb n="pkl_138.018"/> Dämonischen, Unheimlichen das Gemüth bewältigt, <lb n="pkl_138.019"/> da ergreift sie es durch das Großartige, Eigenthümliche, <lb n="pkl_138.020"/> das in der Begebenheit selbst liegt. Die <lb n="pkl_138.021"/> Romanze dagegen hat zwar nicht immer den Charakter <lb n="pkl_138.022"/> der <hi rendition="#g">Freude,</hi> aber immer den der <hi rendition="#g">Ruhe;</hi> selbst bei <lb n="pkl_138.023"/> sehr traurigem Jnhalt durchweht sie immer der Hauch <lb n="pkl_138.024"/> versöhnender, tröstender Milde. Die Ballade entspricht <lb n="pkl_138.025"/> mehr dem <hi rendition="#g">mythischen,</hi> die Romanze mehr dem <hi rendition="#g">romantischen</hi> <lb n="pkl_138.026"/> Kreise.</p> <lb n="pkl_138.027"/> <p> §. 201. Die große Verwandtschaft, in welcher — <lb n="pkl_138.028"/> trotz der aufgeführten charakteristischen Unterschiede — <lb n="pkl_138.029"/> die Ballade und die Romanze zu einander stehen, hat <lb n="pkl_138.030"/> auch eine <hi rendition="#g">Aehnlichkeit</hi> in der <hi rendition="#g">Form</hi> zur Folge. <lb n="pkl_138.031"/> Beide haben <hi rendition="#g">musikalischen Charakter,</hi> beide müssen </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [138/0164]
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Erzählung ist durchaus vergegenwärtigend; die Romanze pkl_138.002
dagegen legt nicht selten auch die Beweggründe, pkl_138.003
die innere Seite des Handelns dar. pkl_138.004
Jn der Romanze schreitet die Erzählung mehr gleichmäßig pkl_138.005
fort, in der Ballade dagegen überspringt pkl_138.006
sie oft mehr oder weniger Wesentliches, läßt dieses jedoch pkl_138.007
durch Vorhergehendes oder Nachfolgendes errathen, pkl_138.008
oder läßt Lücken, welche die Phantasie des Lesers oder pkl_138.009
Hörers, die dadurch um so mehr aufgeregt wird, selbst pkl_138.010
auszufüllen hat, aber auch auszufüllen im Stande sein pkl_138.011
muß. Ueberhaupt steht der Ballade eine in etwa „mysteriöse pkl_138.012
Behandlung“ wohl an, die jedoch nicht in pkl_138.013
Unverständlichkeit ausarten, nicht den Effekt schwächen, pkl_138.014
sondern ihn erhöhen muß; die Romanze dagegen ist in pkl_138.015
der Regel von vorn herein und durch und durch klar. pkl_138.016
Der Jnhalt der Ballade gestaltet sich meist tragisch, pkl_138.017
düster; wo sie nicht durch eine Beimischung des Wunderbaren, pkl_138.018
Dämonischen, Unheimlichen das Gemüth bewältigt, pkl_138.019
da ergreift sie es durch das Großartige, Eigenthümliche, pkl_138.020
das in der Begebenheit selbst liegt. Die pkl_138.021
Romanze dagegen hat zwar nicht immer den Charakter pkl_138.022
der Freude, aber immer den der Ruhe; selbst bei pkl_138.023
sehr traurigem Jnhalt durchweht sie immer der Hauch pkl_138.024
versöhnender, tröstender Milde. Die Ballade entspricht pkl_138.025
mehr dem mythischen, die Romanze mehr dem romantischen pkl_138.026
Kreise.
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§. 201. Die große Verwandtschaft, in welcher — pkl_138.028
trotz der aufgeführten charakteristischen Unterschiede — pkl_138.029
die Ballade und die Romanze zu einander stehen, hat pkl_138.030
auch eine Aehnlichkeit in der Form zur Folge. pkl_138.031
Beide haben musikalischen Charakter, beide müssen
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